Es ist eine Schicksalswahl: Die Türkei entscheidet, ob sie einer Verfassungsreform zustimmt, die Präsident Erdogan eine präzedenzlose Machtfülle verleihen würde. Der Wahlkampf verlief emotional, lautstark – und keinesfalls fair, wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Gründonnerstag kritisierte.
Wegen des geltenden Ausnahmezustands sei die Versammlungsfreiheit unzulässig eingeschränkt. Anhänger des Nein-Lagers würden eingeschüchtert und litten unter der unausgewogenen Berichterstattung. Die Inhaftierung von Oppositionspolitikern verunmögliche einen fairen Wettbewerb.
Doch der Wahlkampf zum Verfassungsreferendum ist nicht die erste Gelegenheit, bei der Zweifel an der Sauberkeit von türkischen Urnengängen aufkommen. Wir haben für dich die absurdesten Schummeleien aufgelistet.
Kleines Tier, grosse Wirkung: Während die Stimmen der landesweiten Lokalwahlen vom 31. März 2014 ausgezählt wurden, kam es in über 20 Provinzen zu Stromausfällen. Weil die Resultate aus den einzelnen Wahllokalen elektronisch an die zentrale Wahlbehörde übermittelt werden, bieten solche Stromausfälle am Wahlabend die Möglichkeit, Wahlresultate zu manipulieren.
Erstaunlicherweise kommt es in der Türkei während der Auszählung von Wählerstimmen häufig zu Stromausfällen. Sobald die Server der zentralen Wahlbehörde wieder am Netz waren, war der Wähleranteil der regierenden AKP jeweils auf wundersame Weise angestiegen — so etwa bei der Wahl des Bürgermeisters Ende März 2014 in der Hauptstadt Ankara, wo der AKP-Kandidat am Schluss mit nur einem Prozent Vorsprung eine mit vielen bis heute ungeklärten Betrugsvorwürfen behaftete Wahl gewann.
Energieminister Taner Yildiz hatte am Wahlabend eine ganz eigene Erklärung: Eine Katze sei in eine Trafostation eingedrungen und habe dabei ihren Tod gefunden — und in weiten Teilen Ankaras für Stromausfälle gesorgt. In anderen Teilen des Landes seien Unwetter für die Ausfälle verantwortlich gewesen.
Ein Bericht wies später nach, dass der Strom dort ausfiel, wo die regionalen Energieversorger der AKP politisch nahestehen. Weil Minister Yildiz die Äusserungen am Tag nach der Wahl machte, hielt die BBC die Aussagen zunächst für einen 1.-April-Scherz. Türkische Twitter-User liessen ihrer Kreativität freien Lauf.
kaldı 23 trafo!!! pic.twitter.com/g0lzqf7jQt
— yaşama dair (@arifatbaran) 2. April 2014
#kedilobisi #TrafoyaKediGirdi #kedidirkedi #kediyuezuenden pic.twitter.com/HNrhaEqgDB
— UK(âlâ)🇹🇷 (@UK_52TR) 13. April 2014
Im August 2014 wurde der damalige Ministerpräsident Erdogan zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Die Verfassung, die Erdogan jetzt ändern lassen möchte, sieht für den Präsidenten eine repräsentative Rolle vor. Er darf keiner Partei mehr angehören und soll sich nicht in die Tagespolitik einmischen.
Das hielt Erdogan nicht davon ab, im Wahlkampf für die Parlamentswahlen im Juni 2015 kräftig für seine ehemalige Partei AKP zu werben. Er hielt Auftritte in allen 81 Provinzen der Türkei ab — offiziell deklariert waren diese Reden als Einweihungen von Infrastrukturprojekten.
Wie die inzwischen per Gerichtsbeschluss geschlossene Oppositionszeitung «Bugün» berichtete, sollen viele der einzuweihenden Infrastrukturprojekte gar nicht existiert haben — eine offizielle Liste dazu veröffentlichte das Präsidialamt nicht.
Wie überall vor Wahlen spielen Umfragen auch in der Türkei eine wichtige Rolle. Wem die Demoskopen Zugewinne voraussagen, der geht mit breiterer Brust durch den Wahlkampf und profitiert in der Öffentlichkeit vom Gewinnerimage. Wer das Gefühl hat, seine Partei verliere sowieso, ist weniger motiviert, an die Urne zu gehen. Das sogenannte «expectation management» ist ein wichtiger Bestandteil der Politik
Das hat auch die regierende AKP gemerkt. Mit Hilfe von umstrittenen Meinungsumfragen, die nicht den üblichen Standards entsprachen, versuchte die Partei im Wahlkampf im Frühjahr 2015 die öffentliche Wahrnehmung zu beeinflussen.
Teilweise wurden Umfragen ohne jegliche Angaben zur Anzahl Teilnehmer oder zur Fehlermarge direkt auf Facebook oder Twitter publiziert — weil das angeblich dahinterstehende Umfrageinstitut keine eigene Website besitzt und zuvor noch niemand je davon gehört hat.
Murat Gezici, ein erfahrener Meinungsforscher, der jeweils Wahlumfragen für die der Opposition nahestehende Zeitung «Sözcü» durchführt, kam mit seinen Resultaten dem «expectation management» der AKP in die Quere — seine Umfrage sah die Partei bei enttäuschenden 35 bis 39 Prozent Wähleranteil. Als Reaktion darauf wurde Gezici vor seinem Haus von Unbekannten verprügelt.