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Türkei: Oppositionspartei HDP setzt nach Verhaftungswelle parlamentarische Arbeit aus

epa05618783 Kurdish protestors shout slogans during a rally against the arresting of lawmakers of People's Democratic Party (HDP), in Istanbul, Turkey, 05 November 2016. The co-leaders of the pro ...
Anhänger der prokurdischen Oppositionspartei HDP.Bild: SEDAT SUNA/EPA/KEYSTONE

Türkei: Oppositionspartei HDP setzt nach Verhaftungswelle parlamentarische Arbeit aus

06.11.2016, 10:1606.11.2016, 18:11
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Die pro-kurdische HDP beklagt nach der Verhaftung ihrer Parteichefs und Abgeordneten den «schwärzesten Angriff in der Geschichte unserer demokratischen Politik». Die Partei warnt vor einer «Diktatur» in der Türkei - und kündigt einen weitgehenden Boykott der Parlamentsarbeit an.

Die zweitgrösste türkische Oppositionspartei in der Nationalversammlung in Ankara teilte am Sonntag mit, sie ziehe sich zunächst aus allen Gesetzgebungsverfahren zurück. Über das weitere Vorgehen werde sie mit ihren Anhängern beraten.

Der HDP-Abgeordnete Ziya Pir sagte der Nachrichtenagentur dpa, eine denkbare Option sei die Aufgabe der 59 Mandate der Partei im Parlament. «Wir werden nicht am Plenum und nicht an den Ausschüssen teilnehmen», sagte er. Die HDP-Fraktionssitzungen im Parlament sollten aber weitergeführt werden.

Fraktionschef Idris Baluken gehört zu den Abgeordneten, die in Untersuchungshaft sitzen. Pir war nach seiner Festnahme am Freitag wieder freigelassen, aber mit einem Ausreiseverbot belegt worden.

Ministerpräsident Binali Yildirim warf den Abgeordneten vor, das Volk zu betrügen, wenn sie den Sitzungen fernblieben. Die HDP habe jahrelang staatliche Gelder, die für Stadtverwaltungen bestimmt waren, in den Terrorismus umgeleitet, kritisierte er.

Erdogan: «Terroristen»

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnete die HDP-Abgeordneten am Sonntag erneut als verlängerten Arm der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die als Terrororganisation verboten ist. «Wenn Sie sich nicht wie ein Abgeordneter, sondern wie ein Terrorist verhalten, dann werden Sie wie ein Terrorist behandelt», sagte er in Istanbul. Niemand in der Türkei stehe über dem Gesetz.

Am Freitag war gegen die HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag sowie gegen sieben weitere Abgeordnete der Partei wegen Terrorvorwürfen Untersuchungshaft verhängt worden. Am Samstag kamen ausserdem der Chefredaktor der regierungskritischen türkischen Zeitung «Cumhuriyet», Murat Sabuncu, und acht seiner Mitarbeiter wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft.

Die «Cumhuriyet»-Mitarbeiter werden beschuldigt, die PKK und die islamische Gülen-Bewegung unterstützt zu haben. Erdogan macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich. Gülen weist das zurück.

HDP-Chef Demirtas erklärte in einer Botschaft aus dem Gefängnis, die Türkei werde jeden Tag «tiefer in die Dunkelheit» gestürzt. «Aber vergesst nicht: Ein einziges Streichholz, eine einzige Kerze reichen aus, um diese Dunkelheit zu erhellen», sprach er über seine Anwälte seinen Anhängern Mut zu.

Internationale Kritik prallt ab

Erdogan wies internationale Kritik sowohl an der jüngsten Verhaftungswelle als auch an seinem Regierungsstil zurück. «Es kümmert mich überhaupt gar nicht, ob sie mich einen Diktator oder Ähnliches nennen. Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Wichtig ist, was mein Volk sagt.»

Er bezichtigte Europa der Beihilfe von Terrorismus: Die PKK könne trotz der Einstufung als Terrororganisation «frei und problemlos» in Europa handeln, sagte Erdogan in einer vom Fernsehen übertragenen Rede.

Der türkische EU-Minister Ömer Celik lud die Botschafter der EU-Staaten in Ankara für Montag zu einem Treffen ein. Bei dem Arbeitsfrühstück solle es um die «neuesten Entwicklungen» in der Türkei gehen, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.

Demonstrationen auch in Europa

Die Verhaftungen sind in der EU auf scharfe Kritik gestossen. Die EU-Kommission stelle im neuen Bericht zur Beitrittsreife der Türkei das bisher schlechteste Zeugnis aus, berichtete die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung». Bemängelt würden schwerwiegende Rückschritte bei Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit.

Rechtsbestimmungen über die nationale Sicherheit und zum Kampf gegen Terrorismus würden «selektiv und willkürlich» angewendet. Die EU-Kommission sei ernsthaft besorgt über die Inhaftierung vieler Journalisten und die Schliessung von Medien seit dem Putschversuch im Juli.

In Zürich demonstrierten am Samstag weit über 1000 Kurden und Sympathisanten gegen Erdogan. Die Kundgebungsteilnehmer forderten «ein Ende der Erdogan-Diktatur». Im deutschen Köln demonstrierten sogar mehr als 6000 Menschen.

In Istanbul setzte die Polizei nach einer Kundgebung der HDP am Samstagabend Wasserwerfer, Tränengas und Plastikgeschosse ein, wie Teilnehmer berichteten. Auf Plakaten forderten Demonstranten «Demokratischen Widerstand gegen jede Art von Putsch» und «Fasst unsere Vorsitzenden nicht an». (viw/sda/dpa/reu)

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