Die US-Botschaft in Paris liegt verkehrsgünstig und zentral: gleich neben der Place de la Concorde und den Champs-Élysées. Gegenüber, auf der anderen Seite der Seine, die Nationalversammlung, das Ministerium für Justiz, Verteidigung und Inneres sind nicht einmal einen Kilometer weit entfernt. Und höchstens 200 Meter Luftlinie weiter liegt der Élysée-Palast, der Sitz des französischen Staatschefs.
Die amerikanische Vertretung residiert in einem ehrwürdigen Palais, dessen Dach eine nicht ganz passende Ergänzung aus Spezialplanen ziert – von aussen sind Fenster aufgemalt, sie sollen ein normales Geschoss vortäuschen.
Tatsächlich sind hier, im Herzen der Hauptstadt, die Antennenanlagen und Parabolspiegel des US-Geheimdiensts versteckt – ganz wie in Berlin, wo Der Spiegel ähnliche Einrichtungen enttarnte. Mit der Dach-Elektronik in Paris spähten die Spione der «National Security Agency» (NSA) zwischen 2006 und 2012 einen ihrer engsten Verbündeten aus – die französische Regierung.
«Es handelt sich um Tatsachen, die inakzeptabel sind und die bereits Ende 2013, nach den ersten Enthüllungen, Gegenstand von Erläuterungen waren», so die ebenso dürre wie bittere Mitteilung des Élysée nach einer Sondersitzung des Verteidigungsrates. «Diese Vereinbarungen gehören strengstens beachtet.»
«Spionage unter Alliierten ist schlicht nicht hinnehmbar», ergänzt Regierungssprecher Stéphane Le Foll trotz der Versicherungen aus den USA, dass sich die Kommunikation von Hollande nicht «im Visier» der NSA-Lauscher befände. Für den Nachmittag wurde der US-Botschafter in Paris ins französische Aussenministerium einbestellt.
Präsident François Hollande telefonierte inzwischen mit US-Präsident Barack Obama über die Vorwürfe. Dabei habe Obama seine Zusage bekräftigt, «mit Praktiken zu brechen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben können und die zwischen Verbündeten inakzeptabel sind», teilte der Élysée-Palast mit.
So viel ist schon jetzt klar: Die Wikileaks-Enthüllungen über die Abhöraktionen gegen die drei Präsidenten Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy und Hollande haben das Vertrauen in die USA zutiefst erschüttert.
«Die Amerikaner schulden uns Entschuldigungen und die Garantie, dass diese Praktiken vorbei sind», schimpft Éric Ciotti, Berater von Nicolas Sarkozy und bei den Republikanern zuständig für Sicherheitsfragen. «Frankreich ist zum Protektorat der USA verkommen», so ein Kommuniqué von Frankreichs Souveränisten, und der Chef der Linkspartei fordert den sofortigen Abbruch der TTIP-Verhandlungen.
Dabei richtete sich die Neugier der NSA-Lauscher zunächst nur auf Jacques Chirac, wenig gelitten, wegen seiner Kritik an der US-Intervention im Irak; Nicolas Sarkozy, angesichts seiner erklärten Nähe zu «Freund» George W. Bush zu Hause als «Sarko der Amerikaner» verschrien, geriet allerdings ebenfalls ins Visier der US-Spionage.
Belauscht wurde, kaum gewählt, auch Nachfolger Hollande. Dabei hatte sich der Sozialist nach den ersten Offenbarungen über NSA-Aktionen in Sicherheit geglaubt: «Ich lebe nicht in der Steinzeit, ich kommuniziere nicht per Morseapparat», sagte er nach einem EU-Gipfel im Oktober 2013. «Wir haben mit der Amtsübernahme alle Vorkehrungen getroffen, damit unsere Telefone gesichert sind.» Pech für Hollande: Auf den Wikileaks-Unterlagen ist auch die Handynummer des Präsidenten unter den NSA-Selektoren aufgelistet.
«Die gesamte Republik wurde von seinem angeblichen Alliierten systematisch abgehört», sagt Edwy Plenel, Chef des Internetportals «Médiapart», das zusammen mit der Tageszeitung «Libération» die Dokumente veröffentlicht. «Es handelt sich um eine Spionageaktion von industrieller Breite.»
Tatsächlich belegen die als «top secret» eingestuften Unterlagen, dass nicht nur die Staatschefs, sondern die gesamte Führungsriege der Republik von den US-Spionen belauscht wurde:
Die Amerikaner hörten zudem Gespräche aus dem Präsidentenflugzeug ab, schnitten die Unterhaltungen von verschlüsselten Handys mit oder wählten sich in die Telefonzentrale des Wirtschaftsministeriums ein.
Bei den bislang veröffentlichten NSA-Unterlagen kann man nicht von Staatsgeheimnissen sprechen, aber peinlich ist es doch, dass sie jetzt an die Öffentlichkeit kommen: Da berät sich François Hollande nach der Amtsübernahme 2012 mit seinem Premier über die Gefahr eines «Grexit»; er lästert nach seiner ersten Begegnung mit der Kanzlerin, sie habe «keine Substanz»; und er organisiert, kurz danach, ein Treffen mit deutschen Oppositionellen, ganz heimlich, um «diplomatische Verwicklungen zu vermeiden».
Von Sarkozy berichten die NSA-Späher, dass er sich 2008 «als Einziger» für fähig hielt, die Finanzkrise in den Griff zu bekommen. In einer anderen Note beklagt der Franzose, dass es im März 2010 nicht zu einer Zusammenarbeit zwischen den Geheimdiensten kommt. Seine Berater resümieren: «Das wichtigste Hindernis ist der Wunsch der USA, Frankreich weiter auszuspionieren.»
Jacques Chirac hingegen äusserte sich laut NSA-Bericht abfällig über seinen damaligen Aussenminister Philippe Douste-Blazy. Weiter schildert der Bericht die Bemühungen Chiracs, den wenig geschätzten Politiker auf einen Posten bei der UNO abzuschieben.
Keine Erkenntnisse von grösster Wichtigkeit, gewiss. Doch als Nebensache werden die Wikileaks-Enthüllungen in Paris nicht gehandelt. Denn auch wenn der Skandal bislang nur politische Petitessen zutage förderte, hat die Affäre nicht nur die Regierung, sondern auch Frankreichs Grossunternehmen tief beunruhigt. Befürchtet wird, dass auch ökonomische Interessen der Republik von den US-Spionen ausgeforscht wurden.
Offenbar zurecht: «Libération» und «Médiapart» haben bereits neue Berichte angekündigt – vor allem zur Wirtschaftsspionage.