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Deutschland stellt seine Sparpolitik in Frage

epaselect epa05822314 The newly appointed leader of the German Social Democratic Party (SPD) and candidate for Chancellor Martin Schulz (L) raises a beer glass next to Natascha Kohnen, Secretary Gener ...
Hoch die Tassen: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz geniesst die Fasnacht.Bild: SEBASTIAN WIDMANN/EPA/KEYSTONE

Der Schulz-Faktor: Deutschland stellt seine «Geiz-ist-geil»-Politik in Frage

Bisher galt in Berlin eisern die Devise: Sparen und Exportieren. Jetzt aber greift der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz die «Agenda 2010» an.
02.03.2017, 15:4403.03.2017, 05:11
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Gerne bezeichnet sich Angela Merkel als «schwäbische Hausfrau». Sparen wie die Schwaben ist deshalb des Politikers oberste Pflicht. Das gilt nicht nur für die Bürgerlichen. Auch die Genossen der SPD betrachten die Sparpflicht als Teil ihrer DNA.  

radar-reuters (HINWEIS: DIESER BEITRAG IST OHNE SPRECHERTEXT.)
Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Landesvertreterversammlung der CDU Mecklenburg-Vorpommern:
"Denn wir - und das hat etwas mit C ...
Predigt Sparen: Kanzlerin Angela Merkel.Bild: REUTERS

Das ist auch nicht verwunderlich: Die «Geiz-ist-geil»-Haltung ist eine Folge der «Agenda 2010», dem umfangreichen Spar- und Sozialabbauprogramm, das 2003 unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder eingeführt wurde.  

Deutschland ist wieder Exportweltmeister

Die «Agenda 2010» gilt heute als Grund, dass die deutsche Wirtschaft wieder zu alter Stärke gefunden hat: Deutschland hat de facto Vollbeschäftigung, die Staatskasse verzeichnete im letzten Jahr einen Gewinn von 24 Milliarden Euro. 2016 wird Deutschland gemäss Prognosen einen Leistungsbilanz-Überschuss von über 300 Milliarden Dollar aufweisen und damit China als Exportweltmeister ablösen.  

Marcel Fratzscher, chairman of the German Institute for Economic Research (DIW), speaks during an interview with Reuters in his office in Berlin, Germany, March 7, 2016. Picture taken March 7, 2016. R ...
Deckt unangenehme Wahrheiten auf: Marcel Fratzscher.Bild: FABRIZIO BENSCH/REUTERS

Somit müssten die Deutschen eigentlich ein sehr glückliches Volk sein. Sind sie aber nicht. 70 Prozent der Einwohner klagen über Ungleichheit – und zwar zu Recht. Marcel Fratzscher, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, stellt in seinem Buch «Verteilungskampf» fest, dass die Ungleichheit in Deutschland inzwischen beinahe amerikanische Dimensionen erreicht hat.  

«Einer der grössten Verlierer dieser Entwicklung ist die deutsche Mittelschicht. Es sind die Menschen in der Mitte der Gesellschaft, deren Jobs in Gefahr sind, deren Löhne schrumpfen, die nur geringe Möglichkeiten haben, Vorsorge zu betreiben und Vermögen aufzubauen»,

 so Fratzscher.  

Deutschland ist nicht nur Exportweltmeister, es hat auch den grössten Anteil von Erwerbstätigen, die in so genannt «prekären» Verhältnissen leben, will heissen: Ihr Einkommen beträgt weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens, und sie haben keinerlei Sicherheiten. Zwischen 2005 und heute hat sich die Anzahl der Prekären  verdoppelt, von 4,8 auf 9,6 Prozent der Erwerbstätigen.  

Kommt rot-rot-grün an die Macht?

Martin Schulz ist der erste SPD-Politiker, der nun das Tabu der Agenda 2010 antastet. Er spricht von höheren Arbeitslosenbeiträgen und will die Situation des Prekariats verbessern. Damit kommt er sehr gut an. Die SPD hat in Meinungsumfragen erstmals die CDU überholt und träumt bereits von einer rot-rot-grünen Koalition.  

Die Austeritätspolitik setzt nicht nur dem deutschen Mittelstand zu, sie ist zu einer Gefahr für die europäische Einheit geworden. Die von Schulz angestossene Debatte wird auch die Europa-Diskussion neu beleben. «Eine solche Debatte ist überfällig», stellte Fratzscher kürzlich in der «Financial Times» fest. «In den Wahlen von 2013 wurde dieses Thema von den grossen Parteien vermieden, weil CDU und SPD befürchteten, dass die AfD davon profitieren würde.»  

epa05458148 (FILE) A file photograph showing Nobel Prize of Economy Joseph Stiglitz speaking during a conference in the frame of the Annual Meeting of International Monetary Fund (IMF) and World Bank  ...
Kritiker der Austeritätspolitik: Joseph Stiglitz.Bild: EPA/EFE FILE

Die von Deutschland in Euroland vertretene eiserne Austeritätspolitik ist gescheitert. «Es war eine Frage der Ideologie, nicht der ökonomischen Wissenschaft», schreibt Joseph Stiglitz in seinem Buch «The Euro». «Es war eine gewollte Weigerung, die Evidenz zur Kenntnis zu nehmen.» Diese Weigerung lässt sich nicht mehr weiter aufrecht erhalten. Der jüngste Streit um die Rolle des IWF bei der Sanierung von Griechenland zeigt, dass selbst die Experten den harten Sparkurs nicht mehr mittragen mögen.

Die Weltwirtschaft kommt auf Touren

Martin Schulz hat einen wunden Punkt getroffen – und das zum richtigen Zeitpunkt. Die Deutschen sind allmählich Merkel-müde, sind aber glücklicherweise immer noch resistent gegen Rechtsradikale. In den jüngsten Umfragen sinken die Werte der AfD wieder. Trotz dem wirtschaftlichen Nationalismus von Donald Trump kommt zudem auch die Weltwirtschaft allmählich auf Touren.

Wenn jetzt die schwäbische Hausfrau dorthin zurückkehrt , wo sie hingehört – in den Haushalt –, und in der Volkswirtschaft die ökonomische Vernunft einkehrt, dann gibt es Grund zur Hoffnung.

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81 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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FrancoL
02.03.2017 15:58registriert November 2015
2 Aussagen freuen mich ganz besonders:

Fratzscher, Stiglitz und andere klagen die immer grösser werdende Ungleichheit an. Wohlstand nützt nichts wenn er derart ungleich verteilt ist.
Der Staat sollte dafür besorgt sein dass ALLE Schichten am Wohlstand teilnehmen können.

"Die Deutschen sind allmählich Merkel-müde, sind aber glücklicherweise immer noch resistent gegen Rechtsradikale"

Ich hoffe diese Resistenz ist dann auch an der Urne spürbar, das wäre ein schönes Geschenk für uns alle und würde 2017 in ein positives Licht rücken.
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Bürgerliche wollen nur Steuergeschenke für Reich
02.03.2017 16:48registriert Mai 2015
Wenn dies eintreffen würde, würde das der ganzen Welt gut tun:
1. Klares Signal an andere europäische Staaten, dass Austerität nix bringt, wenn die Wirtschaft am Boden ist und so Griechenland sich wieder aufraffen kann.

2. Erhöhung der Löhne in Deutschland, so dass die Löhne wieder der Leistung entsprechen.
-> Der Export geht zurück und der Euro wird schwächer. -> Auch ein starkes Signal an Schweizer Unternehmer, dass der Mittelschicht mehr Lohn bezahlt werden soll.
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saukaibli
02.03.2017 16:00registriert Februar 2014
Das wäre ja eine Kehrtwende um 180°, wenn die SPD wieder sozialdemokratische Politik betreiben und vom Neoliberalismus abkehren würde. Die Bücher von Joseph Stieglitz empfehle ich übrigens allen, die immer noch an den Neoliberalismus und die freie Marktwirtschaft glauben. Aber Achtung, er hat sehr überzeugende Argumente. Nicht umsonst ist er Nobelpreisträger.
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