Gerne bezeichnet sich Angela Merkel als «schwäbische Hausfrau». Sparen wie die Schwaben ist deshalb des Politikers oberste Pflicht. Das gilt nicht nur für die Bürgerlichen. Auch die Genossen der SPD betrachten die Sparpflicht als Teil ihrer DNA.
Das ist auch nicht verwunderlich: Die «Geiz-ist-geil»-Haltung ist eine Folge der «Agenda 2010», dem umfangreichen Spar- und Sozialabbauprogramm, das 2003 unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder eingeführt wurde.
Die «Agenda 2010» gilt heute als Grund, dass die deutsche Wirtschaft wieder zu alter Stärke gefunden hat: Deutschland hat de facto Vollbeschäftigung, die Staatskasse verzeichnete im letzten Jahr einen Gewinn von 24 Milliarden Euro. 2016 wird Deutschland gemäss Prognosen einen Leistungsbilanz-Überschuss von über 300 Milliarden Dollar aufweisen und damit China als Exportweltmeister ablösen.
Somit müssten die Deutschen eigentlich ein sehr glückliches Volk sein. Sind sie aber nicht. 70 Prozent der Einwohner klagen über Ungleichheit – und zwar zu Recht. Marcel Fratzscher, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, stellt in seinem Buch «Verteilungskampf» fest, dass die Ungleichheit in Deutschland inzwischen beinahe amerikanische Dimensionen erreicht hat.
so Fratzscher.
Deutschland ist nicht nur Exportweltmeister, es hat auch den grössten Anteil von Erwerbstätigen, die in so genannt «prekären» Verhältnissen leben, will heissen: Ihr Einkommen beträgt weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens, und sie haben keinerlei Sicherheiten. Zwischen 2005 und heute hat sich die Anzahl der Prekären verdoppelt, von 4,8 auf 9,6 Prozent der Erwerbstätigen.
Martin Schulz ist der erste SPD-Politiker, der nun das Tabu der Agenda 2010 antastet. Er spricht von höheren Arbeitslosenbeiträgen und will die Situation des Prekariats verbessern. Damit kommt er sehr gut an. Die SPD hat in Meinungsumfragen erstmals die CDU überholt und träumt bereits von einer rot-rot-grünen Koalition.
Die Austeritätspolitik setzt nicht nur dem deutschen Mittelstand zu, sie ist zu einer Gefahr für die europäische Einheit geworden. Die von Schulz angestossene Debatte wird auch die Europa-Diskussion neu beleben. «Eine solche Debatte ist überfällig», stellte Fratzscher kürzlich in der «Financial Times» fest. «In den Wahlen von 2013 wurde dieses Thema von den grossen Parteien vermieden, weil CDU und SPD befürchteten, dass die AfD davon profitieren würde.»
Die von Deutschland in Euroland vertretene eiserne Austeritätspolitik ist gescheitert. «Es war eine Frage der Ideologie, nicht der ökonomischen Wissenschaft», schreibt Joseph Stiglitz in seinem Buch «The Euro». «Es war eine gewollte Weigerung, die Evidenz zur Kenntnis zu nehmen.» Diese Weigerung lässt sich nicht mehr weiter aufrecht erhalten. Der jüngste Streit um die Rolle des IWF bei der Sanierung von Griechenland zeigt, dass selbst die Experten den harten Sparkurs nicht mehr mittragen mögen.
Martin Schulz hat einen wunden Punkt getroffen – und das zum richtigen Zeitpunkt. Die Deutschen sind allmählich Merkel-müde, sind aber glücklicherweise immer noch resistent gegen Rechtsradikale. In den jüngsten Umfragen sinken die Werte der AfD wieder. Trotz dem wirtschaftlichen Nationalismus von Donald Trump kommt zudem auch die Weltwirtschaft allmählich auf Touren.
Wenn jetzt die schwäbische Hausfrau dorthin zurückkehrt , wo sie hingehört – in den Haushalt –, und in der Volkswirtschaft die ökonomische Vernunft einkehrt, dann gibt es Grund zur Hoffnung.