Im April 1912 rammte die Titanic auf ihrer Jungfernfahrt von Southampton nach New York einen Eisberg und versank im Atlantischen Ozean. Es war eine der grössten Tragödie der Schifffahrt.
Über 100 Jahre nach dem Untergang der Titanic will China nun eine originalgetreue Replika des Kreuzfahrtschiffes bauen. Von den Bullaugen bis zum Kronleuchter, vom Theater bis zur gläsernen Kuppel über der grossen Treppe: alles soll so aussehen wie damals.
Wie «China Daily» berichtet, soll der Nachbau des legendären Linienschiffes aber nicht vom Stapel laufen, sondern das Herzstück eines Themenparks mit einem Luxus-Hotel bilden. Die Kosten beziffern sich auf eine Milliarde Yuan, umgerechnet knapp 148 Millionen Franken.
Die Meldung wurde mit einer Mischung aus Verwunderung und Erheiterung aufgenommen. Experten sind aber nicht wirklich überrascht. China hat bereits eine Kopie des Eiffelturms, der Tower-Bridge und des Kapitols errichtet – und sogar ganze italienische Städte nachgebaut.
Das «Florentia Village» in der Nähe von Peking ist ein Designer-Outlet, durch das Besucher in künstlich angelegten Kanälen in Gondeln schippern. Die Häuser sind in venezianischem Stil gehalten, die Piazza ist ein Klon des Kolosseums in Rom. Der Besucher hat den Eindruck, durch eine italienische Stadt zu flanieren, doch in Wirklichkeit ist alles nur Kulisse. Ein italienisches «Disneyland», einzig dem Konsum verschrieben.
Fake-Architektur boomt in China. In der Provinz Guangdong wurde eine originalgetreue Kopie des österreichischen Bergdorfs Hallstatt gebaut. Der Kirchturm, die Fenster, die Uferpromenade – alles abgekupfert. Ein kitschiges Alpenidyll made in China.
In Peking wurde eine Strasse nach der Szenerie des Schweizer Ortes Interlaken modelliert. Und im Songjiang District nahe Shanghai steht ein ganzes Ensemble viktorianischer Häuser, die aussehen, als hätte hier jemand ein überdimensioniertes Modelleisenbahn-Dorf errichtet.
Die architektonischen Klone werfen freilich Fragen auf: Bedient sich hier jemand wie an einem Steinbruch am europäischen Kulturerbe? Gilt für Gebäude und für Städte nicht auch Urheberrechtsschutz? Ist Europa nur noch die Abziehfolie für chinesische Kopierer? Oder ist eine Replika gerade deshalb schmeichelhaft, weil sie das Original aufwertet?
Die Debatte gipfelte im Streit um den Büro- und Einkaufskomplex «Wangjing SOHO». Während der Bau nach dem Entwurf der verstorbenen Stararchitektin Zaha Hadid im Smog der Pekinger Skyline in die Höhe wuchs, wurde 1500 Kilometer weiter südlich in der Stadt Chongqing an der Kopie gebaut. Kurios: Die Kopie war schneller fertig als das Original.
Während die chinesischen Behörden von «kultureller Kreativität» sprachen, beschwerten sich die Planer über ein Plagiat. Etwas provokant gefragt: Wenn man ein Ikea-Regal klonen darf, warum nicht auch das Gebäude eines Stararchitekten? Wer nun mit dem Finger auf die dreisten chinesischen Kopierer zeigt, sollte sich selbst einmal im Westen umschauen.
Im Spielerparadies Las Vegas steht eine Kopie des Eiffelturms, der Ort Paris im US-Bundesstaat Texas hat ebenfalls eine Replika des Eiffelturms (landestypisch mit Cowboy-Hut dekoriert), und der Parthenon im Centennial Park von Nashville, Tennessee, ist ein detailgetreuer Nachbau des antiken griechischen Parthenon-Tempels in Athen.
Auch der Torre Agbar in Barcelona ähnelt verblüffend dem von Norman Foster in London erbauten «Gherkin». Man kann das nun andächtig als «poetisches Pendant» bezeichnen, aber mit Fug und Recht auch als Kopie.
Die Architekturgeschichte ist voller Kopien und Plagiate. Das Schloss von Versailles wurde von europäischen Landesfürsten gleich mehrfach kopiert (zumindest bestimmte Einzelformen und Elemente der Gartenanlage), was der Einzigartigkeit und Historizität dieser Nachbauten keinen Abbruch tat, im Gegenteil: Heute gehören die Schlösser zum Kulturerbe.
Wie lehrte schon der Schweizer Architektur-Papst Le Corbusier: «Gute Architekten nehmen Anleihen, grosse Architekten stehlen.» Zumindest beim Nachbau der Titanic muss man sich keine Sorgen machen, dass man damit Schiffbruch erleidet.