In der Griechenland-Krise kann man leicht die Orientierung verlieren. Selbst ein Ökonom wie Hans-Werner Sinn ist davor nicht gefeit. Bei ZDF-Polit-Talkerin Maybrit Illner begründete er am Donnerstag «in Edmund-Stoiber-Style» (Die Welt), warum es nichts bringe, den Griechen alle Schulden zu erlassen: «Das ist also das berühmte Fass in dem Boden, äh, äh, äh, das Loch im Fass, das Fass, das man überhaupt nicht füllen kann, egal, was man da reinsteckt.»
So konfus er in diesem Moment redete, in der Sache ist Hans-Werner Sinn glasklar. Er kennt nur eine Lösung für die endlose griechische Tragödie: Den Grexit, den Austritt aus der Eurozone. Seit Monaten propagiert ihn der Leiter des Münchner Forschungsinstituts Ifo gebetsmühlenartig auf allen medialen Kanälen, so auch bei Maybrit Illner: «Nur eine Abwertung einer eigenen Währung wäre die Chance.» So könnte das Land wieder wettbewerbsfähig werden und vielleicht in zehn Jahren wieder dem Euro beitreten, stellte der Mann mit dem markanten Kinnbart in Aussicht.
Der Grexit scheint näher denn je. Faktisch ist Griechenland pleite, seit die Regierung diese Woche eine Zahlung von 1,5 Milliarden Euro nicht an den Internationalen Währungsfonds (IWF) überwiesen hat. Auch die Schliessung der Banken und die Beschränkung der Geldbezüge auf 60 Euro pro Tag sind Anzeichen dafür, dass Griechenland am Rande des Abgrunds steht.
Nun stimmen die Griechen am Sonntag über die Zukunft ihres Landes ab. Auch wenn es bei dem umstrittenen, im Hauruck-Verfahren anberaumten Referendum «nur» um Sparvorschläge der Gläubiger geht, die eigentlich gar nicht mehr aktuell sind; auch wenn es die Regierung von Alexis Tsipras vehement bestreitet: Für die meisten Menschen im schwer geprüften Hellas läuft die Abstimmung auf eine simple Frage hinaus: Euro oder Drachme?
Der Ausgang ist absehbar. Zwar zeigen die Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen, doch das hat nichts zu sagen. Viel wichtiger sind andere Erhebungen, wonach rund drei Viertel der Befragten am Euro festhalten wollen. Dieser Befund gibt die Richtung vor: Die Griechen werden Ja sagen. Davon geht auch watson-Reporterin Rafaela Roth aus, die dem Land in Athen den Puls fühlt: «Die Menschen haben grosse Angst vor einem Austritt aus der EU. Sie wollen nicht, dass ihr Land zum Spielball Russlands wird.» Auch der Mittelstand, dem es noch relativ gut gehe, sei für ein Ja.
In diesem Fall wird Griechenland zumindest vorläufig in der Eurozone verbleiben. Zu diesem Szenario wurde Hans-Werner Sinn von Maybrit Illner leider nicht befragt. Erst kürzlich zeichnete er ein rosiges Bild des von ihm bevorzugten Grexit, wie die NZZ berichtete. Die Rückkehr zur Drachme könne an einem Wochenende bewerkstelligt werden, indem man per Dekret in allen inländischen Verträgen das Euro-Zeichen durch die Drachme ersetze. Eine Abwertung um 50 Prozent würde Griechenland für Touristen und Investoren attraktiver machen.
Aus der Sicht eines Schreibtisch-Ökonomen machen Sinns Ausführungen vielleicht Sinn. Ganz anders beurteilt das britische Wirtschaftsmagazin «The Economist» die Folgen eines Grexit: «Der Austritt aus dem Euro wäre für Griechenland desaströs, nicht zuletzt weil geringfügige Gewinne aus Staatspleite und Abwertung durch die politische und wirtschaftliche Instabilität übertroffen würden.» Auch der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel machte sich in einem Interview mit der «WirtschaftsWoche» keine Illusionen: «Selbst wenn die Griechen aus dem Euro austräten, würden die Hilfsprogramme doch nicht enden. Wir können nicht zulassen, dass ein Land mitten in Europa verelendet.»
Ob ein Nein am Sonntag zum Euro-Austritt führen würde, ist umstritten. Angesichts der gähnend leeren Kassen ist dieses Szenario wahrscheinlich. Zumindest könnte die Regierung versuchen, eine Art Parallelwährung zum Euro einzuführen. Die Konsequenzen sind umstritten, eines aber steht für Sigmar Gabriel fest: «Ein Grexit würde gigantische politische Kosten verursachen. Europa würde seinen Aggregatzustand verändern – von fest zu flüssig.»
Nicht nur aus diesem Grund ist ein Ja sinnvoll. Es ermöglicht einen Neuanfang nach einer fünfjährigen desaströsen Sparpolitik, die das Bruttoinlandsprodukt um 25 Prozent schrumpfen und die Arbeitslosigkeit auf 30 Prozent ansteigen liess. Die Menschen verdienen weniger und müssen dem Staat mehr abliefern, was viele zur Verzweiflung treibt.
Sigmar Gabriel, Jean-Claude Juncker und andere haben die Griechen zu einem Ja aufgefordert. Wenn dies geschieht, müssen sie liefern. Anzeichen für ein Umdenken von Seiten der Gläubiger sind vorhanden. Sogar die eiserne Sparkanzlerin Angela Merkel will Griechenland angeblich weit entgegen kommen, mit einem dritten Hilfspaket, Investitionen von 35 Milliarden Euro und einer teilweisen Umschuldung. Eine solche wäre auch bei einem Grexit unvermeidlich, das bestreitet nicht einmal Hans-Werner Sinn.
Für diesen Sirtaki braucht es allerdings zwei. Auch die griechische Regierung muss ihren Teil zu einer besseren Lösung beitragen. Ob die linksradikale Syriza dazu bereit ist? Finanzminister Yannis Varoufakis hat bei einem Ja seinen Rücktritt angekündigt. Ministerpräsident Alexis Tsipras allerdings sendet zweideutige Signale. Am besten für Griechenland wäre wohl der Wechsel zu einer breit abgestützen Regierung der nationalen Einheit.
Sie müsste den Willen zu echten Strukturreformen aufbringen. Daran hat es auch in den letzten Krisenjahren gehapert. Zu lange hat das Land über seine Verhältnisse gelebt und korrupte Zustände als Normalfall hingenommen. So besass Griechenland bis zum Ausbruch der Krise keine funktionierende Steuerbehörde. Es ist kein gutes Zeichen, dass die konservativen Vorgänger der Syriza-Regierung vor einem Jahr den obersten Steuereintreiber Charis Theocharis gefeuert haben – nicht weil er seinen Job schlecht, sondern weil er ihn zu gut gemacht hat.
Theocharis ist heute Abgeordneter von Potami, einer linksliberalen, proeuropäischen Partei, die bei den Parlamentswahlen im Januar auf Anhieb sechs Prozent erzielte. Sie wäre zur Mitarbeit in einer Einheitsregierung bereit. Noch ist Griechenland nicht verloren, das zeigt auch der beeindruckende Zusammenhalt, den die Krise in der Bevölkerung erzeugt hat.
Ein Ja wäre die wohl letzte Chance, innerhalb der Eurozone wieder auf die Beine zu kommen. Gelingt dies nicht, werden der Grexit und die Rückkehr zur Drachme kaum zu vermeiden sein.
Leider werden in den Medien oft nur die politisch-emotionalen Aspekte im Zusammenhang mit der Währungsproblematik aufgezeigt. Ihr Artikel zeigt, dass es auch anders geht.
Hoffen wir nun, dass sich Griechenland für eine Zukunft im Euroraum entscheidet. Ein Grexit hätte katastrophale Folgen für die griechische Wirtschaft und würde die sozialen Probleme weiter massiv verschärfen.