Am 10. Oktober hat der Gouverneur von St.Petersburg angeordnet, dass so viel Getreide als Notvorrat gehortet werden muss, dass für jeden Bewohner der Stadt mindestens 20 Tage lang 300 Gramm zur Verfügung stehen. Das Vorgehen hat grosse symbolische Bedeutung: Leningrad – so hiess St.Petersburg in der UdSSR – wurde im Zweiten Weltkrieg von den Nazi-Truppen 900 Tage lang belagert. Rund eine Million Menschen sind damals verhungert.
St.Petersburg ist kein Einzelfall. Zwischen dem 4. und 7. Oktober waren rund 40 Millionen Russinnen und Russen an einem gigantischen Zivilschutzmanöver beteiligt. Die Behörden meldeten danach befriedigt, dass die Unterkünfte in gutem Zustand seien.
In einem Bezirk in Moskau forderten derweil die Behörden die Mitbürger zu Spenden für den Bau eines Bunkers auf mit dem Hinweis auf die «wachsenden internationalen Spannungen, speziell die zu erwartende nukleare Aggression gegen Russland von feindlichen Ländern». Gemeint sind dabei natürlich die USA und ihre Verbündeten.
Kriegspropaganda ist am russischen Staatsfernsehen und beim Propagandasender RT seit einiger Zeit alltäglich. Hassprediger wie der TV-Moderator Dmitry Kiselev oder der Ultranationalist Wladimir Zhirinowsky drohen mit Atomangriffen und warnen vor dem Dritten Weltkrieg. In den vergangenen Tagen hat die Propagandamaschine nun einen Gang höher geschaltet.
Der Geschichtsprofessor Michael Khodarkowsky stellt in einer Kolumne in der «New York Times» fest: «Es ist offensichtlich, dass der Kreml ganz bewusst den Eindruck erwecken will, dass ein Krieg unmittelbar bevorsteht. Deshalb lässt er über seine Medien die Botschaft verbreiten, dass die NATO Russland unter Druck setzt.»
Es sind mehr als verbale Drohungen, Putin hat auch massiv in die Modernisierung seiner Streitkräfte investiert. «Nach 1998 erhöhte Russland jedes Jahr seine Militärausgaben», stellt Philip Breedlove im Magazin «Foreign Affairs» fest. «Gleichzeitig begann es, sich systematisch in die Angelegenheiten seiner Nachbarn einzumischen, beispielsweise, in dem es mehrmals die Gaslieferungen nach der Ukraine aussetzte.»
Breelove war zwischen 2013 und 2016 oberster Befehlshaber der US-Truppen in Europa und der NATO.
Russische Kampfjets fliegen Scheinattacken auf NATO-Jets; in der russischen Exklave Königsberg werden Raketen mit Atomsprengköpfen aufgebaut; in Syrien bringen russische Soldaten modernste Abwehrraketen vom Typ S-300 in Stellung; und neuerdings dampft der russische Flugzeugträger «Admiral Kusnezow» durchs Mittelmeer Richtung Nahost. Das sind mehr als Propaganda-Spiele.
Lange hat man im Westen Putins Drohgebärden nicht ernst genommen. US-Präsident Barack Obama hat Russland als «Regionalmacht» bezeichnet – und sich damit wohl die ewige Feindschaft des Kremls eingehandelt. Der russische Präsident ist so etwas wie das ADS-Kind der internationalen Gemeinschaft. «Er benimmt sich wie ein Kind im Sandkasten, das so lange dummes Zeug macht, bis es von den Erwachsenen zur Kenntnis genommen wird», stellt auch Khodarkovsky fest.
Diese Haltung kann sich der Westen nicht mehr leisten. Nochmals Khodarkovsky: «Eine Welt mit Atomwaffen ist kein Sandkasten, und Kriegshysterie in einem riesigen Land zu schüren, das unter imperialer Nostalgie leidet, einer Ein-Mann-Diktatur, einer demografischen Krise, ethnischen Spannungen und einer wegen eines tiefen Ölpreises schwächelnden Wirtschaft – das kann man nicht so leicht zur Seite schieben.»
Ist also die Angst vor einem Dritten Weltkrieg mehr als das Hirngespinst von notorischen Verschwörungstheoretikern? Ein bevorstehender heisser Krieg ist nach wie vor unwahrscheinlich. «Russland hat keine Absicht, gegen Amerika und seine Alliierten in den Krieg zu ziehen», stellt der «Economist» fest. Der Grund dafür ist offensichtlich: Allen Anstrengungen zum Trotz sind die russischen Streitkräfte den NATO-Truppen noch weit unterlegen.
Russland hat aber ein grosses Interesse daran, den Westen zu destabilisieren. Deshalb unternimmt Putin alles, um die EU zu spalten. Er unterstützt sämtliche EU-feindlichen Parteien Europas: Ob Front National oder Jobbik, ob «goldene Morgenröte» – alle neofaschistischen Parteien erhalten Unterstützung aus Moskau.
Mithilfe von Wikileaks verfolgt Putin in den USA ein Ziel, das Mark Galeotti in «foreign policy» wie folgt umschreibt: «Es geht darum, Clinton so zu schwächen, dass sie nach ihrer Inauguration alle Hände voll zu tun hat, mit der verstimmten Linken bei den Demokraten und den verbitterten Republikanern klarzukommen. Eine so gespaltene Nation hätte keine Energie übrig, um sich mit Putin anzulegen.»
So weit der Plan. Putin gilt als raffinierter Taktiker, jedoch als lausiger Stratege. Sein rüpelhaftes Vorgehen wendet sich gegen Russland: «Mit seiner Schmutzkampagne scheint Putin es geschafft zu haben, Clinton und ihre Umgebung zu überzeugen, dass der Kreml eine ernstzunehmende Bedrohung (in der Fachsprache spricht man von einer «clear and present danger», Anm. d. Red.) für die amerikanische Demokratie und die westliche Einheit geworden ist», stellt Galeotti fest.
Ob Putin in die Schranken gewiesen werden kann, ist ungewiss. Der Propagandakrieg hinterlässt auf jeden Fall Spuren und macht die Welt unsicherer. «Russland riskiert eine Überdosis an Hass und Aggression», warnt Akrady Ostrovsky in seinem Buch «The Invention of Russia». «Euphorie und nationalistischen Rausch kann man nicht abdrehen wie ein TV-Gerät: Die aufgepeitschten Emotionen verschwinden nicht einfach so.»