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Terrorismus

Der Neonazi Chris Cantwell verliert nach dem Vice-Film alles

Der Neonazi Chris Cantwell im «Vice»-Film «Charlottesville – Race and Terror» und Tage später den Tränen nahe in seiner Videobotschaft.
Der Neonazi Chris Cantwell im «Vice»-Film «Charlottesville – Race and Terror» und Tage später den Tränen nahe in seiner Videobotschaft.screenshot: youtube/vice

Vom TV-Star zum heulenden Wrack – der Untergang des Charlottesville-Neonazis in 3 Akten

In einer Dokumentation über die Proteste in Charlottesville poltert der Neonazi Chris Cantwell gegen Schwarze und Juden. Kurz nach der Ausstrahlung des Films verliert er alles: seine Würde, seine Bewegungsfreiheit und seine Dating-App.
23.08.2017, 06:0624.08.2017, 07:10
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Prolog

Anhänger der White-Supremacy-Ideologie, des Ku-Klux-Klan, Neonazis, Identitäre und andere rechtsextreme Nationalisten marschierten am Samstag, dem 12. August, durch Charlottesville, Virginia, um den Abriss einer Statue von General Robert E. Lee zu verhindern. Die 32-jährige Heather Heyer starb, nachdem ein Neonazi sein Auto mit voller Wucht in eine Ansammlung von linken Gegendemonstranten steuerte. Mindestens 19 weitere Personen wurden verletzt, fünf davon schwer. 

Nach der Terror-Attacke sind amerikanische Rechtsextreme ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Wer sind sie? Was wollen sie? Und warum hassen sie so sehr? 

Bei der Bewältigung dieser Fragen kam dem selbsternannten Neonazi Christopher Cantwell eine wenig schmeichelhafte Hauptrolle zu. Über Nacht wurde der 38-Jährige aus Keene, New Hampshire, zur Weltberühmtheit, weil er in einer Video-Dokumentation unverblümt über seine rassistische Gesinnung spricht. Nach der Publikation des Videos fiel Cantwell tief. 

Der Nazi mit der dicken Hose

Die «Vice»-Journalistin Elle Reeve will die angekündigte Demonstration von Rechtsextremen in Charlottesville dokumentarisch begleiten. Sie mischt sich mit der Kamera unter die Demonstranten und begegnet Christopher Cantwell. Der 38-Jährige prahlt vor der Kamera, dass er mit drei Handfeuerwaffen, einem Messer und zwei Sturmgewehren zur Demonstration angereist ist. Er sagt Sätze wie: «Natürlich bin ich zu Gewalt fähig. Ich trage eine Waffe, ich gehe die ganze Zeit ins Gym», oder: «Wir sagen nicht, dass wir nicht gewalttätig sind. Aber wir sind nicht die Aggressoren. Aber wenn wir müssen, werden wir diese Leute umbringen.»

Als dann tatsächlich passiert, was Cantwell androhte, und er von der Journalistin damit konfrontiert wird, sagt er in die Kamera: «Es wurden Leute verletzt, weil unsere Rivalen dumme Tiere sind, die nicht aus dem Weg gehen konnten. Diese Leute wollten Gewalt. Wir Ultrarechten befriedigen nur die Nachfrage. Ich bin sicher, dass noch viel mehr Menschen sterben werden».

Charlottesville: Race and Terror

Die «Vice»-Dokumentation über den rechtsextremen Terror in Charlottesville.Video: YouTube/VICE

Nach dem verheerenden Anschlag am Wochenende wird die «Vice»-Dokumentation am Montag ausgestrahlt. Die Zugriffszahlen auf das Video wachsen stündlich an. Cantwell ist inzwischen nach Hause zurückgereist. Er frischt seine Facebook-Profilbilder mit aktuellen Fotos von Charlottesville auf. Sie zeigen ihn selbst inmitten der Gewalt vom Wochenende.

Der Nazi, der mit den Tränen kämpft

Bis Mitte Woche wird das «Vice»-Video über 30 Millionen Mal geschaut. Über Cantwell bricht ein Shitstorm herein. Auf den sozialen Medien wird er beschimpft, vor seinem Haus bedroht. Er flieht an einen unbekannten Ort und wendet sich mit einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit. Es ist unklar, wo das Video zuerst auftauchte. Nur nach wenigen Stunden findet es seinen Weg auf YouTube und ist für Millionen einsehbar.

Auf dem Bild ist ein verzweifelter Cantwell zu sehen. Augenringe, die laufende Nase, entsetzt hochgezogene Augenbrauen zeugen von seinem Elend. Ihm sei mitgeteilt worden, dass ein Haftbefehl gegen ihn vorliege, sagt er. Doch er könne das Haus nicht verlassen, um dies zu verifizieren. «Es ist für mich derzeit nicht klug, irgendwohin zu gehen, da draussen herrscht Ausnahmezustand.»

«Ich habe Angst.»

Der den Tränen nahe Cantwell.Video: YouTube/Paige Carter

Er schluchzt, zieht die Nase hoch, atmet durch und entschuldigt sich für den Aussetzer. Mit zittriger Stimme sagt er, er wolle doch friedlich sein und das Gesetz befolgen. Um das sei es doch die ganze Zeit gegangen. «Und jetzt schaue ich CNN, die von den gewalttätigen weissen Nationalisten berichten. Wir haben alles in unserer Macht stehende getan, um das Ganze friedlich abzuhalten, versteht ihr?!»

Er lässt ausrichten, dass er sich der Polizei stellen wolle, wenn sie ihn holen komme. Er sagt seine Telefonnummer und fordert, dass man ihn anrufen und informieren möge, falls die Polizei ihn suche. Er werde ihr mitteilen, wo er sich aufhalte. «Ich habe Angst, dass ihr mich umbringt, das habe ich wirklich. Ich habe das Gesetz nicht gebrochen. Klar, ich kam mit Gewalt in Berührung, das steht ausser Frage und das will ich auch nicht verstecken, aber ich habe das nur getan, um mich selbst und andere zu verteidigen.»

Der Nazi ohne Dating-App

Bis Ende Woche haben Tausende Cantwells Video gesehen. Die Kommentarspalten explodieren mit Beschimpfungen und Drohungen, die sich gegen den Neonazi richten. Weil er in der Videobotschaft seine Telefonnummer genannt hat, wird er mit Anrufen bombardiert. Sein Name erscheint in vielen Zeitungen. Er wird bezeichnet als «weepy nazi», als weinerlicher Nazi. Doch die Woche ist für Cantwell noch nicht vorbei.

Am Freitag vermeldet «OkCupid», eine bekannte Online-Kontaktbörse, dass Cantwells Account gelöscht wurde und er für den Rest seines Lebens von der Plattform verbannt werde. In ihrer Mitteilung schreibt die Kontaktbörse, sie sei darauf aufmerksam gemacht worden, dass Cantwell einen «OkCupid»-Account habe. Innert zehn Minuten sei die Sache erledigt gewesen. Von den vielen Entscheidungen, die sie jeden Tag fällen müsste, sei diese eine einfache gewesen. «OkCupid hat null Toleranz für Rassismus», lässt sich die Plattform zitieren.

Daraufhin wird Cantwell auch von Tinder rausgeschmissen. Sein YouTube-Channel, seine Facebook-Seite, der Twitter-Account werden ebenfalls gelöscht. Die Tech-Unternehmen erklären nach Charlottesville, dass sie ihre Plattformen von Extremisten aller Art säubern wollten. 

Epilog

Die Staatsanwaltschaft von Virginia hat laut Medienberichten inzwischen bestätigt, dass gegen Cantwell ein Haftbefehl vorliegt. Ihm wird einerseits der «illegale Gebrauch von Gasen» und «Verletzungen durch Ätzmittel oder Sprengstoff» angelastet. 

Cantwell lässt über seinen Blog ausrichten, dass er sich einen Anwalt genommen habe.

«Wahnsinn»: Reaktionen auf Trumps Verteidigung der «Alt Right»

Video: watson

Rassisten-Aufmarsch in US-Unistadt

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Rassisten-Aufmarsch in US-Unistadt
Bei einer Kundgebung von Rechtsextremisten in der Stadt Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia hat es gewaltsame Zusammenstösse mit Gegendemonstranten gegeben.
quelle: ap/ap / steve helber
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81 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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kettcar #lina4weindoch
23.08.2017 08:15registriert April 2014
"Die Tech-Unternehmen erklären nach Charlottesville, dass sie ihre Plattformen von Extremisten aller Art säubern wollten"

Wow, da haben sie aber noch einiges zu tun... Meiner Meinung nach ziemlich heuchlerisch, wenn man weiss, wie Facebook mit Meldungen zu extremistischen Posts umgeht.
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zombie woof
23.08.2017 08:34registriert März 2015
Dumme Sache, wenn ploetzlich die Rollen getauscht werden und man Opfer statt Taeter ist....
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Menel
23.08.2017 07:42registriert Februar 2015
Was Extremisten (aus allen Lagern) immer irgendwie zu vergessen scheinen ist, dass die, gegen die sie schimpfen, keine Kakerlaken, keine Ratten, keine gefühlskalte Monster usw. sind, sondern Menschen. Ich habe eine absolute Nulltoleranz gegenüber Rassisten und Gewalttäter; trotzdem empfinde ich Mitgefühl mit ihm, so von Mensch zu Mensch, denn so ein Shitstorm geht an keinem spurlos vorbei.
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