Richard Nixon musste 1974 als bis heute einziger US-Präsident zurücktreten. Er war über den Watergate-Skandal gestolpert. In der legendären Interviewserie mit dem britischen TV-Moderator David Frost konnte er sich drei Jahre später zu einer Entschuldigung an das amerikanische Volk durchringen. Doch Nixon äusserte auch einen Satz, der sein fehlendes Schuldbewusstsein schonungslos entlarvte: «Wenn der Präsident etwas tut, ist es nicht illegal.»
Donald Trump ist nicht Nixon, oder noch nicht. Obwohl er erst zwei Monate im Amt ist, wird bereits über seinen Rücktritt oder seine Amtsenthebung spekuliert. In mindestens einem Punkt aber sind sich der 37. und der 45. US-Präsident sehr ähnlich: Trump hat zu den Fakten ein genauso problematisches Verhältnis wie Nixon zu Recht und Gesetz. Seine Maxime lautet in Anlehnung an den erwähnten Satz: «Wenn der Präsident etwas sagt, ist es wahr.»
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— TIME (@TIME) 24. März 2017
Im konkreten Fall ist es ebenfalls ein Interview, das Donald Trumps verzerrte Sicht auf die Realität entlarvt. Er führte es am Mittwoch telefonisch mit Michael Scherer, dem Leiter der Hauptstadt-Redaktion des Nachrichtenmagazins «Time». Dabei ging es explizit um sein Verhältnis zu Wahrheit und Lüge, was Trump ausdrücklich begrüsste: «Das Konzept ist richtig», sagte er zum Auftakt und fügte den Grund sogleich an: «Ich habe vieles vorhergesagt, Michael.»
Donald Trump, der unfehlbare Prognostiker. So stellte er sich in dem 20-minütigen Gespräch dar. Und belegte dabei so anschaulich wie nie seinen kreativen Umgang mit der Wahrheit. Oder um es im Klartext auszudrücken: Er hat gelogen, und das nicht zu knapp. Was Trump nicht kümmert. Er lebt in seiner Filterblase, und kritische Reflexion ist sowieso nicht sein Ding:
Beispiele gefällig? Gleich mehrfach erwähnte der Präsident seine Behauptung über die angeblich verheerenden Zustände in Schweden:
Trump bezog sich bei einem Auftritt am 11. Februar in Florida ausdrücklich auf etwas, das «letzte Nacht in Schweden passiert ist». Es gab jedoch keine Unruhen, was in Skandinavien für Belustigung sorgte. Tatsächlich kam es zwei Tage später zu Ausschreitungen in einem überwiegend von Einwanderern bewohnten Viertel eines Vororts von Stockholm, allerdings ohne Tote. Was will Trump mit seiner Behauptung bezwecken? Stellt er sich dar als Erfinder der retrospektiven Prognose?
Geradezu obsessiv beschäftigte sich der Präsident im Interview mit dem Vorwurf, sein Vorgänger Barack Obama habe ihn abhören lassen. FBI-Chef James Comey wies diese Behauptung in der Anhörung vor dem Geheimdienstausschuss des Repräsentantenhauses am Montag zurück. Am Mittwoch allerdings erklärte Devin Nunes, der Vorsitzende des Ausschusses, Gespräche von Trump seien möglicherweise durch routinemässige Abhöraktionen mitgeschnitten worden.
Devin Nunes sagte, es handle sich um «normales, zufälliges Sammeln», und die Abhöraktionen hätten nichts zu tun gehabt mit der Untersuchung wegen möglicher Verbindungen des Trump-Teams zur russischen Regierung. Allerdings betonte der Republikaner, es gebe keine Hinweise, dass Trump auf Befehl von Obama abgehört wurde. Solche Vorwürfe seien «haltlos».
Michael Scherer konfrontierte Trump auch mit Aussagen aus dem Wahlkampf. Etwa der Behauptung, Muslime in New Jersey hätten die Terroranschläge vom 11. September 2001 gefeiert.
Serge Kovaleski, der besagte Reporter, hat nie eine solche Story geschrieben. Die Behauptung, Muslime hätten in New Jesery gefeiert, basiert auf Gerüchten. Zahlreiche Medien sind ihr nachgegangen und haben nicht den geringsten Beweis dafür gefunden.
Ein besonders hübsches Schmankerl ist die im Wahlkampf geäusserte Behauptung, der Vater von Trumps innerparteilichem Rivalen Ted Cruz habe Lee Harvey Oswald gekannt, den mutmasslichen Mörder von Präsident John F. Kennedy. Trump dazu:
Besagte «Zeitung» ist der «National Enquirer», ein berüchtigtes Revolverblatt. Es hat vor einigen Jahren einen Scoop gelandet mit der Enthüllung, dass der ehemalige Präsidentschaftskandidat John Edwards ein uneheliches Kind gezeugt hat. In erster Linie aber besteht sein Inhalt aus aufgebauschten Gerüchten. Für eine angebliche Liaison Cruz-Oswald gibt es null Beweise. Ein Experte für Gesichtserkennung stellte fest, dass der Mann im Foto nicht der Vater von Cruz sein könne.
Man könnte weitere Beispiele anführen, in denen Trump standhaft blieb, obwohl seine Aussagen zweifelhaft oder widerlegt sind. «Ich habe viele Dinge vorhergesagt, die etwas Zeit brauchten», meinte er nur. Das Interview liefert am Ende eine Erkenntnis: Der Anführer der freien Welt, der die vielleicht grösste Verantwortung trägt, ist ein Rechthaber, der sich einen Deut schert um Tatsachen, die nicht in sein Weltbild passen. Er zieht «alternative Fakten» vor.
The story behind TIME's 'Is Truth Dead?' cover https://t.co/xyJOd4qxx1
— TIME (@TIME) 23. März 2017
Seine Fans scheint es nicht zu kümmern, oder sie leben selber in einer postfaktischen Welt. Was «Time» auf dem Cover der aktuellen Ausgabe mit einer resignativen Frage auffängt: «Ist die Wahrheit tot?». Die Titelseite ist eine Art Selbstzitat. 1966 hatte das Magazin in ähnlichem Look gefragt: «Ist Gott tot?»
Zum Thema «Time»-Cover hatte Trump übrigens auch etwas zu sagen:
Michael Scherer musste ihn enttäuschen. Richard Nixon liege immer noch vorne. Tatsächlich war es Nixon, der in seiner schillernden Karriere nicht weniger als 55 Mal auf dem Titel von «Time» erschienen ist. Trump hat einiges aufzuholen, er war erst rund ein Dutzend Mal drauf. Im Schlusswort des Interviews brachte er seine Befindlichkeit auf den Punkt.
Zumindest dieser Behauptung kann niemand widersprechen.