Israel
Islamischer Staat (IS)

«In Gaza kämpft die dritte Amateurliga gegen die Champions League»

«Da hat ein Riese einen Zwerg zusammengebombt», sagt Jürgen Todenhöfer. Hier vor einem zerstörten Haus in Gaza City. 
«Da hat ein Riese einen Zwerg zusammengebombt», sagt Jürgen Todenhöfer. Hier vor einem zerstörten Haus in Gaza City. Bild: Jürgen Todenhöfer  
Interview mit Jürgen Todenhöfer

«In Gaza kämpft die dritte Amateurliga gegen die Champions League»

Vor allem bekannt geworden ist der Publizist und frühere CDU-Abgeordnete Jürgen Todenhöfer durch seine Kritik an den US-amerikanischen Interventionen in Nahost. Im Interview spricht der 73-Jährige über Gaza als den einzigen durch Demokratien gestützten Gulag, westliche Terrorzuchtprogramme im Irak und sagt, warum Obamas Bomben gegen die IS nichts nützen werden. 
23.08.2014, 12:4426.08.2014, 12:18
Rafaela Roth
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Sie waren vor rund drei Wochen in Gaza. Was haben Sie dort gesehen? 
Viel Zerstörung, viel Verzweiflung und Not. Auch viel Irrsinn. In jedem Krieg, den ich erlebt habe, sei es Afghanistan, Libyen, Irak, Angola, Mosambik oder Algerien, habe ich immer die Krankenhäuser besucht. Dort sieht man, was Krieg wirklich bedeutet und wie hohl die Sätze von Politikern sind, die vom heroischen, patriotischen Krieg sprechen. Krieg heisst Leiden und Sterben, und zwar elendes Sterben. Es wäre gut, wenn die Politiker dieses Elend einmal mit eigenen Augen sehen würden.  

Wie unterscheidet sich der Krieg in Gaza von anderen Kriegen, die Sie gesehen haben? 
Die meisten Kriege, die ich überlebt habe, waren Kriege von haushoch überlegenen Mächten gegen kleine, praktisch wehrlose Länder, von daher unterscheidet er sich kaum. In Gaza kämpft die sechstmächtigste Armee der Welt mit über 600’000 Mann, ausgerüstet mit den besten Drohnen und Raketenflugzeugen, gegen einen Flecken Land, der halb so gross ist wie Hamburg. Und zwar gleichzeitig von allen Seiten, von der See und aus der Luft. In Gaza kämpf die dritte Amateurliga gegen die Champions League.  

«Ministerpräsident Netanjahu hat diese Panik in der Bevölkerung gezielt geschürt, weil er sie brauchte, um seine Bombenangriffe zu rechtfertigen.»

Auch die Hamas schiesst scharf. 
Ja, weitgehend mit Schrottwaffen, diesen Kassam-Raketen mit einer Trefferquote von einem Prozent. Ich habe mir in zwei israelischen Städten ihre Schäden angeschaut: Der schlimmste, den man mir gezeigt hatte, war eine zerstörte Gartensauna.  

Jürgen Todenhöfer.
Jürgen Todenhöfer.Bild: jürgen todenhöfer   
Zur Person 
Jürgen Todenhöfer ist promovierter Jurist und als Publizist in Deutschland tätig. Der 73-Jährige bereist seit Jahren gefährliche Krisenregionen, darunter Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und zuletzt Gaza. Einige seiner Bücher über Kriege und Schicksale ihrer Opfer wurden zu Bestsellern. Von 1972 bis 1990 sass der Vater von drei Kindern für die CDU im deutschen Bundestag. Danach war er bis 2008 Vorstandsmitglied des Burda-Medienkonzerns. Besonderes Interesse widmete Todenhöfer stets dem Verhältnis der westlichen zur muslimischen Welt. Wegen seinen dezidierten Standpunkten dazu erhält Todenhöfer nach eigenen Aussagen regelmässig Morddrohungen. (rar)

Welche Stimmung herrscht in Israel?  
Es herrscht Angst, Panik sogar. Ministerpräsident Netanjahu hat diese Panik in der Bevölkerung gezielt geschürt, weil er sie brauchte, um seine Bombenangriffe zu rechtfertigen. Bei jeder von irgendwoher anfliegenden Rakete wurde Luftschutz-Alarm ausgelöst. Obwohl die Raketen meist auf freiem Feld einschlugen, oder vom «Iron Dome» abgefangen wurden. Aber nur dank dieser Panikstimmung unterstützen fast 90 Prozent der israelischen Bevölkerung Netanjahus Offensive. Sie denken, sie seien mitten in einem gefährlichen Krieg und würden angegriffen. Dabei hat die radikale Hamas kaum wirklich gefährliche Waffen.  

Dennoch: Es sind Menschen in Israel getötet worden. 
Ja, zwei Israelis und ein Thailänder. Das ist schlimm und rechtswidrig. In Gaza starben bis jetzt jedoch 2'030 Zivilisten und mehr als 10’000 sind zum Teil schwer verletzt. Die Herumballerei der Hamas ist völlig sinnlos. Jemand hat mal zu mir gesagt, das sei wie eine verzweifelte Frau, die vergewaltigt wird und sich wehrt, kratzt, beisst und schlägt, obwohl es nichts bringt und alles nur noch schlimmer macht. 

Auf ihrem Facebook-Account schrieben Sie: «In diesen Tagen fühle ich mich als Palästinenser». Sie fordern Sanktionen gegen Israel. Man könnte Ihnen eine antisemitische Haltung unterstellen.
Das ist totaler Quatsch. Wenn es antisemitisch ist, gegen Bombardierungen zu sein, was ist dann semitisch? Bombardierungen? Ich bin für das Existenzrecht Israels. Ich halte Antisemitismus für eine erbärmliche Haltung. Deshalb sage ich trotzdem nicht «Bravo», wenn ich durch Krankenhäuser gehe, wo Kinder mit Raketensplittern im Kopf liegen. Kinder, die vor Schmerz oder Entsetzen die Sprache verloren haben. 

«Gaza ist der einzige Gulag auf der Welt, der von Demokratien akzeptiert wird.»

Sie reagieren genervt auf diese Frage. Man muss sie aber dennoch stellen. Das Wort «Antisemitismus» taucht in dieser Debatte immer wieder auf.  
Natürlich gibt es Leute, die Israel kritisieren, weil sie antisemitisch sind. Es gibt Antisemitismus. Leider. Aber er wird durch diesen Krieg geschürt und nicht durch die Kritik an den Brutalitäten dieses Krieges. Die Menschen sehen, dass da Kinder getroffen werden und dass das Kräfteverhältnis absurd ist. Gaza ist der einzige Gulag auf der Welt, der von Demokratien akzeptiert wird. Da kann man doch nicht einfach schweigen.

Nennen Sie das, was in Gaza passiert, Völkermord?
Nein. Völkermord ist ein sehr grosses Wort. Aber es ist ein Massaker. Es sind Kriegsverbrechen. Ich stand vor einem komplett zusammengebombten Behindertenheim. Kinder, die am Strand Fussball gespielt haben, wurden von der Marine totgeschossen. Menschen, die sich in einem Strandcafé das Fussballspiel Argentinien gegen die Niederlande angeschaut haben, flogen in die Luft. Da hat ein Riese einen Zwerg zusammengebombt. Und die Leute konnten nicht einmal fliehen. 

«In den Krankenhäusern sieht man, was Krieg wirklich bedeutet», sagt Jürgen Todenhöfer, hier im Spital in Gaza. Bild: jürgen todenhöfer   

Bilder zeigen, dass Israel Flugblätter zur Warnung niedergehen liess. 
Zehntausende von Leuten wurden automatisch angerufen und informiert, dass sie das Viertel oder ihr Haus räumen sollten, weil es gleich bombardiert werde. Stellen Sie sich das einmal persönlich vor. Was tun Sie dann? Alles, was Sie sich in Jahrzehnten aufgebaut haben, aufgeben? Der zweite Weg der Israelis war, dass Häuser zunächst mit einer Minirakete bombardiert wurden. Das bedeutete, dass man noch zwei Minuten Zeit hatte, bevor die grosse Bombe niederging. Ich habe so eine Warnung miterlebt: Schon die Warnrakete liess das halbe Haus einstürzen.  

«Der Westen hat sich angewöhnt, seine Feinde einfach als Terroristen zu bezeichnen.»

Israel fühlt sich durch Terroristen bedroht…
Wir machen uns das zu leicht. Der Westen hat sich angewöhnt, seine Feinde einfach als Terroristen zu bezeichnen. Seit der zweiten Intifada im Jahr 2000 sind laut der israelischen Menschenrechtsorganisation B'tselem über 10’000 Menschen im Palästina-Konflikt getötet worden. 9000 davon waren Palästinenser. 9000! Die Zahl der getöteten Israeli liegt unter 1200. Der, der 9000 tötet, kann doch nicht die anderen als Terroristen bezeichnen.  

Ist das nicht eine Verharmlosung? Sie schreiben auch, die Plästinenser würden die Erdtunnels nach Israel und Ägypten nur für «Ausflüge in die Freiheit» nutzen. 
Das «nur» stammt von Ihnen. Die Tunnels nach Ägypten dienten zum einen dazu, dass die Menschen raus kamen. Das war übrigens sehr teuer. Vor allem aber dienten sie zum Warentransfer, Medikamente zum Beispiel. Das heisst, es waren Schmuggeltunnel. Unter der neuen ägyptischen Regierung wurden diese Tunnels geflutet und versiegelt. Die anderen Tunnels in Richtung Israel hatten militärische Gründe. Um die zu schliessen, hätten die Israeli keine Bodenoffensive gebraucht. Da gibt es weniger blutige Methoden. 

«Wenn Israel Flüchtlingslager und Schulen bombardiert, ist das auch rechtswidrig.»

Sie haben mit Führern der Hamas gesprochen. Sind das keine Terroristen? 
Die Hamas ist eine radikale Widerstandsorganisation, die sich auch terroristischer Mittel bedient. Meine Definition war immer, dass Terroristen zur Erreichung ihrer Ziele bewusst Zivilisten töten. Da muss man dann allerdings auch ganz viele Staaten Terroristen nennen. Staatsterrorismus ist das. Die Hamas gefährdet durch ihre Raketen zivile Personen. Das ist klar rechtswidrig. Aber wenn Israel Flüchtlingslager und Schulen bombardiert, ist das auch rechtswidrig. Ob Sie das eine oder das andere Terrorismus nennen, überlasse ich Ihnen. Für mich ist beides terroristisch. 

Was hatten Sie für einen Eindruck von den Hamas-Sprechern?  
Ich habe einen gefragt, ob er denke, dass seine Raketen irgendwas nützten. Er hat mich gefragt, was sie denn sonst machen sollten. Dann habe ich ihm von meinem Traum erzählt, dass alle Menschen aus Gaza, 1,8 Millionen, in einem Friedensmarsch zum Grenzübergang nach Israel marschieren und Freiheit für Gaza fordern würden. Das wäre eine Politik des zivilen Ungehorsams. Sie würden die Sympathie der Welt gewinnen.  

Das ist unrealistisch. 
Überhaupt nicht. Denken Sie an Gandhi oder Martin Luther King! Wenn ich Palästinenser wäre, würde ich das machen. Denn die haben keine richtigen Waffen, die können sich im Grunde gar nicht anders wehren. Ein solcher Marsch wäre ein grossartiges Zeichen. 

Jürgen Todenhöfer mit jungen Palästinensern.Bild: jürgen todenhöfer   

Ist Ihre pazifistische Haltung zeitgemäss, wo in so vielen Ländern Krieg herrscht?
Ich bin kein Pazifist. Ich akzeptiere Verteidigung, wenn ein Land angegriffen wird. Aber man kann nicht jemanden, der nicht nach unserer Pfeife tanzt, einfach angreifen. Angriffskriege sind kriminell.   

Würde das nicht Kapitulation bedeuten? 
Wieso Kapitulation? Es brennt heute im Irak auch deshalb, weil die USA 2003 dort Bomben abgeworfen haben. Angeblich wegen irgendwelcher Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins. Die man allerdings frei erfunden hatte. Die USA haben den Irak komplett zerstört und alle Sunniten aus den politischen Ämtern und der Armee entfernt. Daraufhin entwickelte sich im Irak ein sunnitischer Widerstand, der jetzt sehr stark geworden ist. Radikale Gruppen, wie zum Beispiel der IS, der «Islamische Staat», haben sich diesem überwiegend gemässigten Widerstand angeschlossen. Und ihn an den Rand gedrängt. 

«Jetzt, auf den ‹Islamischen Staat› – eine sehr radikale Bewegung – mit Bomben zu reagieren, ist dumm und wirkungslos.»

Wie sollte der Westen auf die IS reagieren? 
Für die Amerikaner wäre es viel gescheiter, sie würden einen nationalen Aussöhnungsprozess anstreben, der die Sunniten im Irak wieder politisch teilnehmen lässt. Dann würde den radikalen Kräften die Grundlage entzogen. IS stünde einer starken geschlossenen irakischen Front gegenüber.

Sie befürworten Obamas Luftschläge nicht? 
Jetzt, auf den ‹Islamischen Staat› – eine sehr radikale Bewegung – mit Bomben zu reagieren, ist dumm und wirkungslos. Die IS kämpft teilweise im Guerilla-Stil. Die wird sich nicht den Amerikanern zuliebe an einem Punkt versammeln, damit man sie wegbomben kann. In Wirklichkeit werden 90 Prozent der Getöteten Zivilisten sein. Und das wird neuen Hass schüren und neue Terroristen züchten  

Deswegen nennen sie die Kriege im Irak und Afghanistan Terrorzuchtprogramme. 
Ja. Obama und die Amerikaner haben nichts dazu gelernt. Als dieser mörderische Anschlag – 9/11 – passierte, mussten die Amerikaner natürlich in irgendeiner Form reagieren. Und sie haben in der dümmsten Form reagiert, indem sie einfach Bomben über Kabul abgeworfen haben und zahllose Unschuldige getötet haben. Damals hatte Al-Kaida eine Grösse von vielleicht 200 bis 300 Leuten, im Irak gab es überhaupt keine Al-Kaida. Heute, nach den Irak- und Afghanistan-Kriegen, gibt es im Mittleren Osten zigtausende Terroristen.  

«Die Alternative ist mitzuhelfen, dass die ausgeschlossenen sunnitischen Bevölkerungsschichten schnell in den politischen Prozess integriert werden.»

Was sollte Obama denn sonst tun? 
Die Alternative ist mitzuhelfen, dass die ausgeschlossenen sunnitischen Bevölkerungsschichten schnell in den politischen Prozess integriert werden, dass alle Iraker am politischen Prozess teilnehmen können. Mittelfristig brauchen wir eine internationale Konferenz für den gesamten Nahen Osten. Wenn wir weiter nur mit Bomben auf die Konflikte reagieren, wird uns irgendwann der ganze Nahen Osten um die Ohren fliegen.  

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