Seelenverwandt
Deshalb stehen Eltern nicht allen ihren Kindern gleich nah

Es gibt Eltern, die haben zu einem Kind eine spezielle Verbindung. Das sagt der berühmte Familientherapeut Jesper Juul. Er traute sich lange nicht, die These öffentlich zu vertreten.

Sabine Kuster
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Mehr als ein Lieblingskind: Manche Eltern haben zu einem Kind eine Verbindung, die nichts mit Liebe zu tun hat, sagt Juul.

Mehr als ein Lieblingskind: Manche Eltern haben zu einem Kind eine Verbindung, die nichts mit Liebe zu tun hat, sagt Juul.

plainpicture/Westend61/Jo Kirchh

Es geht nicht um Mamas Liebling. Oder Papas Prinzessin. Und doch geht es um Kinder und Eltern, die eine spezielle Beziehung zueinander haben. Eine «intuitive Verbindung», so nennt das einer der berühmtesten Familientherapeuten in Europa, Jesper Juul.

Der Däne ist für viele Eltern das, was Remo Largo in der Schweiz ist: Halt auf den täglichen erzieherischen Gratwanderungen. Rund vierzig Bücher über Kindererziehung hat er geschrieben, das zweitletzte, «Leitwölfe sein» (2016), wurde wieder ein Bestseller. In seinem neusten Buch, «Liebende bleiben», hat er ein Kapitel über die «intuitive Verbindung» versteckt. Im Buch geht es eigentlich darum, wie Eltern eine gute Beziehung zueinander haben können, trotz der ständigen Auseinandersetzungen mit und wegen der Kinder. Mittendrin steht nun, was er bisher nur mündlich zu sagen gewagt hatte.

Eine heikle These

Juul sagt, der Hauptgrund, dass er dieses Thema in keinem seiner vielen anderen Bücher davor erwähnt habe, sei die Befürchtung gewesen, dass Eltern das Phänomen während einer Scheidung gegeneinander benutzen könnten. Und auch in funktionierenden Partnerschaften laufe oft unterschwellig ein Wettbewerb, wer der bessere Elternteil sei.

Das mit der speziellen Verbindung zu einem Kind ist eine sensible Sache. Denn wenn es so etwas gibt, wie geht es dann dem anderen Kind und dem anderen Elternteil dabei? Und redet Juul nicht einfach von den altbekannten «Lieblingskindern»?

Plötzlich war er stumm: Jesper Juul ist 2012 in Slowenien während eines Vortrags zusammengebrochen und ins Koma gefallen. (Archiv)
6 Bilder
Vom Brustkorb abwärts ist er seither gelähmt. Erst seit letztem Herbst kann er wieder sprechen.
In der stummen Zeit schrieb Juul seine These über die intuitive Verbindung nieder.
Die Bilder entstanden anlässlich eines Interviews im November 2010 in einer Jugendherberge in Wollishofen.
Jesper Juul kam am 18. April 1948 zur Welt.
Der Däne ist ein bekannter Familientherapeut.

Plötzlich war er stumm: Jesper Juul ist 2012 in Slowenien während eines Vortrags zusammengebrochen und ins Koma gefallen. (Archiv)

Emanuel Freudiger

«Es war immer eine Herausforderung für mich, Eltern diese Verbindung zu erklären», sagt Juul auf Anfrage. Er redet nie von Lieblingskindern. Das bezeichne nur eine gefühlsmässige Anziehung. Bei der intuitiven Verbindung gehe es um eine existenzielle Beziehung. «Sie hat nichts mit Liebe zu tun.» Nur weil Eltern keine andere Bezeichnung für diese Verbundenheit kennten, dächten sie, es wäre Liebe. Also müssten sich Eltern auch nicht schuldig fühlen oder auf den Partner eifersüchtig sein. Eine intuitive Verbindung sei auch keine Auszeichnung. «Es ist, was es ist, was es ist.»

Juul fand die herkömmlichen Theorien über «Lieblingseltern», «Erstgeborene» und Ähnliches einfach nicht erklärend genug. Der Familientherapeut gibt offen zu: wissenschaftliche Belege gebe es für seine Theorie nicht. Man könne so was aber auch nicht von aussen beweisen. Doch die Betroffenen, speziell die Kinder, seien sich der «intuitiven Beziehung» meist bewusst.

Warum eine solche Verbindung entsteht, kann Juul nicht erklären. Aber er vermutet, dass es nur in biologischen Familien vorkommt. Über die Jahre hat er viele Adoptivkinder getroffen. Von denen, die ihre biologischen Mütter getroffen hätten, habe die Hälfte verstanden, was er gemeint habe mit einer intuitiven Verbindung. Und er fragt sich, ob die andere Hälfte wohl zum Vater eine solche habe. «Interessanterweise konnte kein einziges Adoptivkind eines seiner Adoptiveltern als mit ihm intuitiv verbunden benennen», sagt er. Es gebe also möglicherweise ein biologisches Bindeglied zwischen Kindern und Eltern.

Ständig Konflikte mit der Tochter

Juul erzählt von einer Mutter, die in der Familientherapie vor Erleichterung zu weinen begann, als Juul ihr die intuitive Verbindung zu erklären versuchte. Die Mutter sagte, sie habe sich immer schlecht gefühlt, weil sie ihre Familie in zwei Teile geteilt gesehen habe: Sie und ihr 9-jähriger Sohn auf der einen – ihr Mann und die 14-jährige Tochter auf der anderen Seite. «Wenn ich meine Tochter bitte, mir im Garten zu helfen, endet das oft im Konflikt, weil ich ihr alles zehnmal sagen muss. Wenn mein Sohn mir hilft, macht er alles schon beim ersten Mal richtig. Mit ihm zu arbeiten, ist einfach so viel unkomplizierter.»

Juul schildert viele Familiensituationen. Auch jene mit der siebenjährigen Elisabeth, die sich beim ersten Gespräch nahe zum Vater aufs Sofa setzte. Auch dieser Mutter fiel es leicht, die enge Beziehung der beiden anderen anzuerkennen: «O ja, du kannst darauf wetten, dass du da genau richtig liegst», sagte sie zu Juul. «Seit ihrer Geburt hat sie ihn nicht aus den Augen gelassen.» Nur der Vater reagiert erschüttert. Dann sagt er: «Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wenn du das sagst, fühle ich in meinem Herzen, dass es wahr ist, aber ich hatte immer die Vorstellung, dass meine Frau besser mit Kindern umgehen kann.»

Väter reagierten oft so, wenn sie jene mit der intuitiven Verbindung zu einem Kind seien, schreib Juul. Und nicht alle Mütter können damit gut umgehen: Viele finden so eine Verbindung ungerecht, wenn sie sich fast im Alleingang um das Kind gekümmert hatten.

Ob mans intuitive Verbindung nennt oder anders, schmerzhaft ist die Erkenntnis, dass die Beziehungen in einer Familie unterschiedlich eng sind, so oder so. Als 2012 der amerikanische Wissenschaftsjournalist Jeffrey Kluger im «Time Magazine» über Lieblingskinder schrieb, stiess er damit eine lang anhaltende Diskussion an. Er behauptete, dass jeder Vater und jede Mutter ein Lieblingskind hat.

Juul aber sagt: «Ich versuche Wörter wie ‹alle› oder ‹jeder› zu vermeiden, schlicht weil ich nicht weiss, ob es so ist. Ich habe Familien getroffen, die eine solche Verbindung nicht kannten, und ich habe kein Verlangen und keinen Grund dies anzuzweifeln.»

Aber eben: Um Lieblingskinder geht es Juul gar nicht. Es gehe nicht nur um mehr als Gefühle, es sei auch mehr als ein «wir ticken gleich». Er beschreibt Fälle von Trennungskindern, die ohne den einen Elternteil depressiv wurden.

Beide sind wichtig

Juul ist überzeugt, dass der Elternteil mit dieser intuitiven, existenziellen Verbindung das stärkere Rollenvorbild ist. Von ihm lerne das Kind ganz unbewusst, wie das Leben zu meistern ist, und übernehme Verhaltensformen. Er sieht das gleichzeitig als Chance, aber – bei schwierigen Biografien des elterlichen Vorbildes – auch als Herausforderung.

Und was ist mit dem Partner? Ist der überflüssig? «Die jeweils andere Person ist im Leben des Kindes genau so wichtig als haltgebender Elternteil», findet Juul, «Er bietet Sicherheit und Stabilität. Hat ein Kind nur den Elternteil mit der intuitiven Verbindung, hat es nur die Hälfte, von dem, was es braucht.»

Und der Däne warnt die Eltern, sie sollten die «intuitive Verbindung» nicht als Erklärung für alles Mögliche missbrauchen. Wie zum Beispiel wenn in der Familie Probleme auftauchen. Er sagt: «Ich habe eigentlich nur eine Empfehlung: Was für eine Verbindung ihr auch immer zu euren Kindern habt, versucht so nützlich für ihr Leben zu sein wie möglich und geniesst es!»