Aargauer Obergericht
Freispruch mit Fragezeichen in Messerstecher-Prozess – Afghane erhält 76'000 Franken Genugtuung

Ein Afghane verletzt einen anderen Asylbewerber aus dem Iran im Streit schwer. Der Verteidiger macht am Prozess Notwehr geltend und gewinnt.

Manuel Bühlmann
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In der Asylunterkunft Kaiseraugst kam es zur Messerstecherei. (Symbolbild)

In der Asylunterkunft Kaiseraugst kam es zur Messerstecherei. (Symbolbild)

KEYSTONE/JEAN-CHRISTOPHE BOTT

Die Polizisten waren wenige Minuten nach dem Notruf vor Ort. In der Asylunterkunft Kaiseraugst trafen sie auf zwei 28-jährige Männer, die sich gegenseitig mit Messerstichen verletzt hatten. Ein Iraner verlor viel Blut und schwebte in akuter Lebensgefahr; ein Afghane erlitt Verletzungen im Bauch. «Auseinandersetzung zwischen Asylbewerbern», titelte die Kantonspolizei in ihrer Mitteilung. Die genauen Hintergründe würden nun untersucht, stand darin weiter.

Seither sind drei Jahre vergangen, doch was sich an jenem Juniabend im Zimmer Nummer 10 und auf dem Gang der Unterkunft abgespielt hat, konnte nie abschliessend geklärt werden. Und, so viel vorweg: Das gelang am Montagmorgen auch am Prozess vor dem Aargauer Obergericht nicht.

Unbestritten ist: Am späteren Abend fragte der Iraner im Zimmer des Afghanen, das sich dieser mit einem Landsmann teilte, nach Salz zum Kochen. Er erhielt eine Handvoll davon und wurde danach vom Beschuldigten forsch zum Gehen aufgefordert. Ein Wortgefecht folgte, woraufhin der Iraner das soeben erhaltene Salz dem Afghanen ins Gesicht schleuderte und beide mit Fäusten aufeinander einschlugen. Darüber, was danach passiert ist, gehen die Schilderungen auseinander. Für die Staatsanwaltschaft ist klar: Der afghanische Beschuldigte griff zu einem Küchenmesser mit einer 17,5 Zentimeter langen Klinge und stach damit auf seinen Kontrahenten ein. Weil sich dieser wehrte, sei auch der Angreifer selbst verletzt worden.

«Ich wollte ihm nichts tun»

Anders lautet die Version des Beschuldigten, die er in gut verständlichem Deutsch den Oberrichtern schildert; der Dolmetscher, der verspätet eintrifft, kommt nicht zum Einsatz. Demnach sei er mit einem Messer angegriffen und verletzt worden. Beim Lavabo habe er auch ein Messer genommen, um sich zu verteidigen. Hätte er seinen Gegner stärker verletzen wollen, hätte er dies tun können. Doch das sei nie sein Ziel gewesen: «Ich wollte ihm nichts tun.» Er habe sich nur gegen den Angriff zur Wehr gesetzt.

Notwehr, findet auch sein Verteidiger Andreas Clavadetscher und verlangt vor Obergericht einen Freispruch sowie die Aufhebung der Massnahme, die vom Bezirksgericht Rheinfelden im Oktober angeordnet wurde. Dieses befand damals, eine vorsätzliche versuchte Tötung liege zwar vor, doch der Mann sei nicht schuldfähig. Ein Gutachten attestierte ihm eine paranoide Schizophrenie und eine posttraumatische Belastungsstörung. Zurzeit sitzt er im vorzeitigen Massnahmenvollzug und wird in der geschlossenen Abteilung der psychiatrischen Klinik Königsfelden therapiert. «Ich bin stabil», sagt der Beschuldigte und zeigt mit der Hand auf den rechten Oberarm, wohin er einmal monatlich eine Spritze erhält. «Ich will die Therapie weitermachen», versichert er den Oberrichtern. Allerdings, so sein Wunsch, nicht mehr stationär.

Für Oberstaatsanwalt Daniel von Däniken gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, dass der Messerangriff vom Beschuldigten ausging. Die Notwehr-These sei falsch. Die Aussagen des Zeugen, die der Verteidiger davor in Zweifel zog, hält der Oberstaatsanwalt für glaubwürdig. Von Dänikens Fazit: «Die Anordnung der Massnahme ist gerechtfertigt.» Die Berufung sei deshalb abzuweisen.

Genugtuung statt Massnahme

Eine Einschätzung, die das Obergericht nicht teilt. Das Urteil des Bezirksgerichts Rheinfelden wird am Ende aufgehoben. Das heisst: keine versuchte vorsätzliche Tötung, keine Massnahme, dafür eine Genugtuung von 76'000 Franken wegen der zu Unrecht erlittenen Haft. Wer dafür verantwortlich ist, dass der Streit in einer Messerstecherei endete, muss auch vor Obergericht offenbleiben. Ein Freispruch mit Fragezeichen – das geht auch aus der Begründung von Oberrichter Robert Fedier hervor: «Wir müssen zu Ihren Gunsten entscheiden, wenn Zweifel bestehen. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass Sie sich in einer Nothilfesituation befunden haben.» Aus dem vorzeitigen Massnahmenvollzug sei er unverzüglich zu entlassen. Die beiden Polizisten bringen den Beschuldigten als freien Mann zurück nach Königsfelden. Dort werden die Ärzte entscheiden, in welcher Form die Therapie fortgesetzt wird.