Eurovision Song Contest
Der Song Contest erlebt in Kiew sein Waterloo: Hier regieren Politik, Propaganda und Krieg

Das Gastgeberland Ukraine und Russland haben ihren kriegerischen Konflikt auf die Showbühne gebracht. Die European Broadcasting Union ist dagegen machtlos.

Stefan Künzli
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Julia Samoilowa, Russlands ESC-Kandidatin, darf in Kiew nicht auftreten, wird dafür von russischen Medien umso stärker unterstützt.

Julia Samoilowa, Russlands ESC-Kandidatin, darf in Kiew nicht auftreten, wird dafür von russischen Medien umso stärker unterstützt.

Keystone

Ein grosser Tag für die querschnittgelähmte Sängerin Julia Samoilowa. Vor Tausenden von Zuschauern hat die russische Kandidatin des Eurovision Song Contest (ESC) ihren Song «Flame Is Burning» vorgetragen. Doch Samoilowa sang nicht in Kiew, wo gleichzeitig der erste Halbfinal des europäischen Liederwettbewerbs über die Bühne ging, sondern in Sewastopol, auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim.

Es ist ein Fernduell, denn das Gastgeberland Ukraine hat die russische Kandidatin ausgesperrt, weil sie bereits vor zwei Jahren auf der Halbinsel aufgetreten ist. Die Ukraine, die in der Ostukraine seit drei Jahren einen bewaffneten Konflikt mit prorussischen Rebellen austrägt, fühlte sich provoziert und verhängte einen dreijährigen Bann gegen die Sängerin.

Politik hat den ESC immer begleitet: Den Anfang machte Österreich 1969, das dem Wettbewerb in Madrid aus Protest gegen die in Spanien herrschende Franco-Diktatur fernblieb. In Portugal hat das Eurovision-Lied «E Depois do Adeus» 1974 sogar die Nelkenrevolution «ausgelöst»: Das Lied war das verabredete Zeichen für die rebellierenden Militärs zum Umsturz.

Nordwestschweiz

Andere Länder wie Aserbaidschan nutzten den Anlass 2001 für politische Propaganda des diktatorischen Regimes. Georgien wurde 2009 von der European Broadcasting Union (EBU) ausgeschlossen, als das Land mit dem Song «We Don’t Wanna Put In» gegen den Einmarsch von russischen Truppen auf georgischem Territorium in Südossetien und Abchasien protestierte.

Buh-Konzert für Russland

Russland respektive die russischen ESC-Kandidaten waren in den letzten Jahren regelmässig Zielscheibe von Protesten. Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine wurden die russischen Kandidaten am ESC immer wieder ausgebuht. Der aktuelle Konflikt ist in dieser Reihe zu sehen und begann eigentlich schon vor einem Jahr mit dem Sieg der Krimtatarin Jamala für die Ukraine. Ihr umstrittenes Lied «1944», das die Verbannungsgeschichte ihres Volkes erzählt, verwies ausgerechnet das favorisierte russische Lied in letzter Minute auf die Ränge. Der Kreml schäumte vor Wut und witterte, wohl nicht zu Unrecht, politische Motive hinter der Entscheidung.

Das Schweizer Lied: Timebelle

Für die Schweiz ist die Band Timebelle dieses Jahr am Eurovision Song Contest in Kiew am Start. Am Donnerstagabend im zweiten Halbfinal gilt es ernst. Gefordert ist vor allem Frontfrau und Sängerin Miruna Manescu (28), denn der Song «Apollo« ist schwierig zu singen.

Die Absturzgefahr für die gebürtige Rumänin, die in Bern eine neue Heimat gefunden hat, ist gross. Die Wettquoten sehen Timebelle denn auch auf dem 29. von insgesamt
41 Plätzen. Was schlecht aussieht, ist immerhin eine der besseren Ausgangslagen als in den letzten Jahren. Die letzten Schweizer Kandidatinnen, Melanie René (2015) und Rykka (2016), sind schon im Halbfinale ausgeschieden und belegten den letzten Platz. Der Tessiner Sebalter qualifizierte sich 2014 als letzter Schweizer für den Final und erreichte dort den guten 13. Rang. (sk)

ESC zweiter Halbfinal, 11. Mai, 21 Uhr, auf SRF 1.

Der Eurovision Song Contest war schon immer mehr als ein Liederwettbewerb. Naiv ist, wer glaubt, nur die künstlerische Leistung sei ausschlaggebend. Beim Ländervoting hat die Politik stets eine wichtige Rolle gespielt. Legendär sind die zwölf Punkte, die sich Griechenland und Zypern gegenseitig zuspielen. Eine lange Tradition hat aber auch das freundschaftliche Abstimmungsverhalten der skandinavischen Länder sowie die englischsprachige Allianz von Grossbritannien und Irland.

Jüngeren Datums ist zudem die Solidarität der baltischen Länder und der Turkvölker Türkei und Aserbaidschan sowie das Blockverhalten der slawischen Bruderländer. Man hat es toleriert und wir Schweizer haben uns immer wieder geärgert. Aber seien wir ehrlich: Es war das Salz in der Suppe eines künstlerisch umstrittenen, aber stets unterhaltenden Wettbewerbs.

Kriegsmusik

Der jüngste ESC-Konflikt stösst jedoch in eine andere Dimension vor. Was jetzt passiert, ist nichts anderes als die konsequente Fortsetzung des Konflikts, eine Art Stellvertreterkrieg auf dem Buckel der russischen Kandidatin. «War Music», («Kriegsmusik») nennt der «Economist» den anstehenden Eurovision Song Contest in der ukrainischen Hauptstadt. Ein willkommener Propaganda-Krieg, den beide Länder gekonnt für sich und ihre Sache ausschlachten.

In Russland wird die Ukraine von den gleichgeschalteten Staatsmedien als Land dargestellt, das von skrupellosen Nationalisten regiert wird, die nicht einmal davor zurückschrecken, eine unschuldige, behinderte russische Sängerin blosszustellen. Umgekehrt nutzen die ukrainischen Machthaber die Affäre, um vom eigenen Versagen, der grassierenden Korruption und von den uneingelösten Reformversprechen der «Maidan- Revolution» von 2014 abzulenken.

Triana aus Lettland.
9 Bilder
Dihaj aus Aserbeidschan.
Martina Barta aus der Tschechischen Republik.
Blanche aus Belgien.
Norma John aus Finnland.
Jubel nach dem Einzug ins Finale.
Hovig aus Zypern.
Tamara Gachechiladze aus Georgien.
Lindita aus Albanien.

Triana aus Lettland.

SERGEY DOLZHENKO

«Der Eurovision Song Contest wurde 1956 gegründet, um den europäischen Zusammenhalt in einem friedlichen Liederwettstreit zu fördern», sagte EBU-Generaldirektorin Ingrid Deltenre der «Nordwestschweiz» schon vor zwei Jahren. «Wir versuchen, die Politik vom Contest konsequent fernzuhalten, können aber nicht verhindern, dass es Gruppierungen gibt, die diese Plattform für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren wollen. Bis jetzt haben wir
es geschafft, die Politik fernzuhalten. Sonst gäbe es den Contest nicht mehr.»

Wie der aktuelle Konflikt zeigt, gelingt es der EBU aber immer weniger, ihre Statuten durchzusetzen und den Eurovision Song Contest politisch rein zu halten. «Kein Lied, kein Auftritt darf den ESC oder die EBU in Misskredit bringen», heisst es darin. Politische Botschaften oder offene Streitereien zwischen Ländern sind verboten. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Sowohl die Ukraine wie Russland haben massiv gegen die Grundwerte der EBU verstossen und Schlichtungsversuche und Vorschläge der EBU abgelehnt.

Sanktionen kommen zu spät

Und was macht die EBU? Sie sieht klare Verstösse und will gegen beide Länder Sanktionen aussprechen. «Unsere Statuten sehen bei Verstössen Geldstrafen, Entzug der Sponsorenanteile und Sperren von bis zu drei Jahren vor», heisst es bei der EBU. – Aber erst nach dem Finale des ESC, vermutlich im Juni. Ein Witz!

Der EBU macht sich damit zur Lachnummer. Der Eurovision Song Contest ist damit ein Abbild des europäischen Zustands. War es schon immer. Die Machtlosigkeit der EBU spiegelt dabei die Machtlosigkeit der EU gegenüber dem Geschehen in der Ostukraine und der Krim.

Kein Wunder, regieren auch am diesjährigen ESC Animositäten und werden Konflikte auf die Showbühne getragen. 43 Jahre nach dem Sieg von Abba mit dem Song «Waterloo» erlebt der ESC sein Waterloo. Den Eurovision Song Contest gibt es noch – aber wie lange noch?