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Gesellschaft & Politik

Kommentar von Philipp Löpfe zum Binninger Cervelat-Streit

Der Cervelat als Symbol für Schweizer Küche.
Der Cervelat als Symbol für Schweizer Küche.
Kommentar

Cervelat-Streit: Wenn wir nicht mehr wissen, was wir essen dürfen, dann wissen wir bald nicht mehr, was wir denken sollen

Der Cervelat-Streit in Binningen ist mehr als der jüngste Seldwyla-Streich der SVP. Er ist ein weiteres Indiz für eine um sich greifende, gefährliche Verunsicherung.
22.06.2016, 11:2522.06.2016, 12:04
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Natürlich ist es absurd, verbieten zu wollen, dass Schweizer Schülern ein Wurstsalat zum Mittagessen serviert wird. Doch genauso absurd ist es, daraus eine Staatsaffäre machen zu wollen. Jede Firmenkantine bietet heute eine Menüauswahl inklusive vegetarischer Variante an. Das sollte eigentlich auch ein Caterer für eine Schulkantine leisten können.  

«Wir sind Menschen mit einer ungesunden Obsession für gesundes Essen geworden.»
Michael Pollan

Doch ist es auch Irrsinn, so hat es Methode. Die SVP weiss, dass sie mit ihrer Cervelat-Aktion zwei Fliegen auf einen Schlag trifft: Sie schürt einmal mehr die Hetze gegen Muslime und sie heizt gleichzeitig Verunsicherung an, was man heute noch essen soll, beziehungsweise darf.

Wer zur Babyboomer-Generation gehört, hatte zumindest diesbezüglich kein Problem. In der Nachkriegszeit assen Kinder noch, was auf den Tisch kam, und auf den Tisch kam, was schon die Grossmutter gekocht hatte. Niemand dachte auch nur im Traum daran, den Sonntagsbraten oder die Freitagswähe in Frage zu stellen.

Das Ende der Selbstverständlichkeit

Heute hingegen ist diese Selbstverständlichkeit dahin. Ob Fleisch oder Gluten, Zucker oder Nüsse, alles wird hinterfragt, weil es entweder gegen die Gesundheit oder eine moralische Norm verstösst. Das Resultat ist Paradox: Fett- und Magersucht grassieren. Wir sind, wie es der US-Essenjournalist Michael Pollan treffend formuliert, «Menschen mit einer ungesunden Obsession für gesundes Essen geworden».

Essen ist fundamental und unsere Obsession mit dem Essen ist eine fundamentale Verunsicherung. Aus Kindern, die nicht mehr wissen, was sie essen dürfen, werden Studenten, die nicht mehr wissen, was sie denken sollen.

An US-Universitäten führt dies bereits zu grotesken Auswüchsen. Literaturprofessoren streichen Shakespeares Klassiker «The Merchant of Venice» von der Liste, weil er angeblich antisemitisch sei. Jus-Studenten werden nicht mehr mit dem Thema Vergewaltigung konfrontiert, um Ängste zu vermeiden. «Mit diesem aus dem Ruder gelaufenen Kinderschutz wird den Studierenden eine psychische Fragilität attestiert, in der der kleinste Dissens als ‹traumatisierend› gilt», kommentiert die «NZZ» dieses Phänomen.

Die Verunsicherung, die mit dem Essen – und damit beim banalsten Bedürfnis überhaupt – beginnt, führt zu einer Relativierung aller Erkenntnisse und Werte.

Was als Schutz für Minderheiten gedacht wird, erreicht genau das Gegenteil. Donald Trump hat den Kampf gegen die politische Korrektheit zu seinem Markenzeichen gemacht. Kein Steak kann zu blutig, keine Beleidigung von Minderheiten oder Frauen zu krass sein.

Für jede Studie gibt es eine Gegenstudie

Auf den verschiedensten Onlineforen wird der Kampf gegen die politische Korrektheit auf die Spitze getrieben. Weil die Medien angeblich zu einer «Lügenpresse» und die Politiker zu einer korrupten Elite verkommen sind, ist alles erlaubt: Hetze, Verunglimpfung und das Verbreiten von krassen Unwahrheiten. Wie sagt es unser Westentaschen-Trump Andreas Glarner doch so schön: «Mein Gott, ist doch nicht so schlimm, dass es eine Falschinformation war!»

Die Verunsicherung, die mit dem Essen – und damit beim banalsten Bedürfnis überhaupt – beginnt, führt zu einer Relativierung aller Erkenntnisse und Werte. Für jede Studie gibt es eine Gegenstudie. Vielleicht ist rotes Fleisch krebserregend, vielleicht auch nicht. Vielleicht die Klimaerwärmung gefährlich, vielleicht auch nicht. Und überhaupt sind Wissenschaftler gekauft, Teil des Mainstreams oder gar einer internationaler Verschwörung irgendwelcher Art.  

Die Cervelats zurück in die Mensa

Anstatt Meinungs- und Kulturvielfalt entsteht so die totale Relativierung, und das können Menschen nicht durchhalten. Sie brauchen etwas, worauf sie sich verlassen können. Die Anti-Political-Correctness-Propheten sind daher gleichzeitig auch Verkünder einfacher Patentlösungen und scheinbar bewährten Werten. Wo das hinführt, wissen wir. Deshalb sollten die Cervelats zurück in die Schulmensa – und zwar so schnell wie möglich.

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86 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Gaspadin
22.06.2016 12:36registriert Juni 2016
Wer sich fragt, was er denken darf, wird des Denkens nie mächtig.

Wer sich fragt, was er essen darf, wird nie richtig essen.

Denn in beiden Fällen, gibt es immer einen, der Dir einreden will, dass Du das falsche denkst und isst.

P.S. Wer keine Cervelat essen will, kann sie stehen lassen und stattdessen einen Löffel voll Kartoffelsalat mehr verlangen. Dito für Veganer, sie können immer und überall das Fleisch und den Käse weglassen. Schnipo mit Salat ohne Schni ist vegan. Problem gelöst. Die Gschnäddärfrässigen sind selber schuld, dass sie zuwenig Auswahl haben.
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azoui
22.06.2016 11:42registriert Oktober 2015
Ein Wurstsalat, besser als Fondue, aber Käse muss rein und zwar auf der Röstiraffel geraffelt und nicht anders.
Somit plädiere ich nicht für den Wurstsalat sondern für den "Wurscht- Chäs Salat" dazu ein Buurli und eine Stange.

Bonne appetit tous le monde.
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stookie
22.06.2016 12:48registriert Oktober 2014
Offenbar werden Herr Löpfes Kommentare gerne auseinandergezogen wie ein Kaugummi bis man hindurchschauen kann.
Ich sehe sie als Anregung zum (weiter)denken.
Bin ich ganz alleine hier?
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