«Doch nicht so rum!» Hamidullah korrigiert seinen Freund Eshanullah. Der will das Schulheft von hinten beginnen, doch ab jetzt ist die Lesart nicht mehr Persisch: Hier wird von links nach rechts geschrieben.
«Neuland» porträtiert drei junge Menschen, die das Schicksal in die Schweiz verschlagen hat und einen Kurs der Integrations- und Berufswahlklassen (IBK) in Basel besuchen. Eshanullah stammt aus einer armen Bauernfamilie und verliess mit 16 Jahren seine afghanische Heimat, um seine Eltern mit dem Notwendigsten versorgen zu können. Mit einem Schlauchboot fuhr er übers Meer, die Berge überquerte er zu Fuss.
Die Albanerin Nazlije zog nach dem Tod ihrer Mutter mit ihrem jüngeren Bruder Ismail zu ihrem Vater, der schon über 20 Jahre in der Schweiz wohnt. Hamidullah kommt ebenfalls aus Afghanistan, ist dort zur Schule gegangen und schreibt Gedichte über seine Heimat, die er eigentlich nie verlassen wollte.
Wie führt man ein Bewerbungsgespräch, was ist ein Lebenslauf? Nazlije, Eshanullah und Hamidullah tasten sich in dieser Lebensschule Schritt für Schritt an die Schweiz heran. In zwei Jahren lernen die Jugendlichen Deutsch. Das ist die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Integration: Ohne Sprachkenntnisse haben die Schülerinnen und Schüler kaum Aussicht auf eine gesicherte Zukunft.
Klassenlehrer Christian Zingg begleitet die Jugendlichen auf ihrem langwierigen Weg. Es wird schnell klar, dass er kein Lehrer klassischen Zuschnitts ist. Seine Aufgabe ist es, den Schülern die harte Realität aufzuzeigen: Er muss ihnen sagen, dass ihre Voraussetzungen schlecht sind. Gleichzeitig ermutigt er sie aber, Chancen zu ergreifen, sich anzustrengen und trotz vieler Pflichten das Träumen nicht ganz zu vergessen.
Und während sich die drei ein Leben aufzubauen versuchen, holt sie immer wieder die Einsamkeit und die Sehnsucht nach ihrem Zuhause ein. «Tragen die Maulbeerbäume schon Früchte?», fragt Eshanullah seine Mutter am Telefon. Er würde sie gerne sehen.
Der Regisseurin Anna Thommen gelingt es, das Fremde, mit dem ihre Protagonisten konfrontiert werden, in einer schönen Symbolsprache zu beschreiben. Rührende Szenen mischen sich unter die hässlichen. Aus kulturellen Unterschieden entstehen oftmals witzige Missverständnisse, man sitzt da und lacht und kurz danach sitzt man immer noch da, aber man weint. Übermannt von der Stärke dieser Jugendlichen, die darum kämpfen, die Fremde zu ihrer Heimat zu machen. Die sehr feinfühlige Kombination der Gegensätze geben einem hochpolitischen Thema ein menschliches Gesicht.
Sie habe keinen politischen Film machen oder eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Integrationsthematik anstossen wollen, sagt die Regisseurin im Gespräch mit watson. Es sei ihr um Einzelschicksale gegangen und ein Anliegen gewesen, dass das Publikum emotional auf den Film reagiert.
Politik laufe viel zu oft auf einer intellektuellen Schiene: Es gehe dabei um Zahlen, um Fakten, die so emotionslos wie möglich daherkommen müssten. Sie habe dagegen etwas Subjektives schaffen wollen: «Damit man mit Gefühlen auf die im Film gezeigten Menschen reagiert, mit ihnen mitgeht und die Fakten später vielleicht einmal emotional betrachtet.»
«Neuland» handelt von menschlichen Begegnungen. Doch trotz aller Emotionalität schlachtet die Regisseurin die teilweise tragischen Geschichten der Hauptdarsteller in keiner Weise voyeuristisch aus: Effekthascherei ist ihr zuwider. Anna Thommen zeigt die Menschen, von denen sie erzählt, wie sie sind – in schlichten, starken Bildern. Vielleicht ist der Film gerade wegen dieses empfindsamen Zugangs ein sehr wertvoller Beitrag zur politischen Migrations- und Integrationsdebatte.