Als watson vor enorm langer Zeit gegründet wurde, erhob mein Chef Miley Cyrus zur Säulenheiligen unseres Unternehmens. Zu unserem Leitstern. Ich dachte: Der spinnt, der Chef. Bloss weil eine nackt auf einer Abrissbirne durch ein Video reitet, ist sie noch lange nicht interessant. Zudem ist sie ein Ex-Disney-Star. Und Ex-Disney-Stars sind zwar einigermassen fleissig, aber abgesehen von Justin Timberlake keine grossen Leuchten. Keine Diskursmotoren oder so.
Doch die Zeit ging ins Land, und Mileys Stern stieg hoch und höher, und jetzt ist es höchste Zeit, der 22-Jährigen mal richtig Respekt zu zollen. Denn Miley Cyrus, diese Pippi Langstrumpf des Pop, regelt die Welt nach ihrem Gefallen. Und das, obwohl sie vorwiegend zuhause in einem tatsächlich kunterbunten Haus sitzt, Yoga macht, kifft und mit ihren Tieren spricht. Mit den Katzen, den Hunden und dem Hausschwein, das in ihrem Wohnzimmer wohnt und dauernd versucht, ihre Fussgelenke anzuknabbern.
Sie sagt, sie könne sich gerade nicht entscheiden, ob sie sich eher als Mädchen oder als Junge fühle. Sie hat aus diesem Lebensgefühl heraus im Januar 2015 ihre Happy Hippie Foundation gegründet. Für obdachlose Jugendliche und LGBT-Kinder, die nicht mehr weiter wissen. 1,6 Millionen obdachlose Jugendliche gibt es in den USA, 40 Prozent davon sind homo- oder transsexuell und wurden von ihrer Familie rausgeschmissen. Miley gibt ihnen Halt. Irgendwie heilig, die Miley, dachte ich damals, wie so ein Einhorn aus Regenbogenfarben mit einem überraschend grossen Herz.
Jetzt sagt Miley: «Ich bin reich genug. Es ist doch ein Witz, dass alle immer noch reicher werden wollen, was soll das denn?» Weshalb sie ihr neues Album gratis ins Netz gestellt hat, in der Nacht auf Montag. Ihrem Plattenlabel hat sie damit gedroht, sich aus einem Multimillionen-Dollar-Vertrag für mehrere Alben freizukaufen, wenn sie das Gratis-Album nicht machen dürfe. Soviel alternative Energie kennt man sonst nur von Radiohead. Natürlich liess ihr Label sie gewähren.
«Miley Cyrus & Her Dead Petz» heisst das Album, Miley und ihre toten Haustiere. Ihr toter Hund Floyd («The Floyd Song») ist eins davon, ihr allzu früh verschiedener Kugelfisch («Pablo The Blowfish») ein anderes, und dann ist da auch noch die tote Katze einer Freundin, die sie zu «Twinkle Song» inspirierte. Tote Tiere also. Und Sex. Viel, viel Sex. Und Drogen. Und eine psychedelisch glitzernde Selbstsuche. Voll mit wunderbar bekifften Zeilen: «I had a dream – David Bowie taught us how to skateboard» und so.
Und dann ist da noch der alte Mann. Jedenfalls ist Wayne Coyne mit seinen 54 Jahren fürs Universum der Miley-Fans ein alter Mann. Er, der Frontmann der Flaming Lips, von dem Miley sagt, kein Mensch auf Erden stehe ihr näher, keinen Mann würde sie mehr lieben, «aber nicht sexuell, das wäre ja ekelhaft». Coyne hat mit Miley zusammen «Dead Petz» geschrieben, er sagt, Miley zeige darauf eine «leicht weisere, traurigere, wahrere» Seite ihrer selbst, und ihre Musik erinnere ihn an «Pink Floyd und Portishead».
Das stimmt. Und an David Bowie, Grace Jones und «Revolver» von den Beatles. Total verstrahlt um 4 Uhr früh in einem Club. Space, Love, Drugs und eine enorme, partialerotische Fixierung auf einzelne Körperteile: Aus einem Spiel mit Nippeln wird die Milchstrasse geboren («The Milky Milky Milk»). Sterne gehen auf und Sterne gehen unter. 90 Minuten lang kann man schweben, fluchen und ficken mit Miley Cyrus, gewaltig aufgekratzt zu Beginn («Dooo It!»), dann zunehmend beruhigt, bis man sich zum Ende hin mit dem toten Kugelfisch und David Bowie in ein kühles Grab legt. Gross, gross, gross. Und gratis! Verrückt.
Dass sie sich zwanghaft ausziehen muss, das gehört halt zu einem echten Postmoderne-Postgender-Postkapitalismus-Hippie. «Ich bin eine vegane Nudistin, sehr ökobewusst», heisst das in ihren Worten. Und so wie neulich, als sie mit fast nackten Brüsten Talkshow-Host Jimmy Kimmel völlig aus dem Konzept und sich selbst in eine überlegene Position brachte, ist die Sache mit dem Blütteln ja auch wirklich produktiv. Miley macht derzeit eben alles ein bisschen anders. Und das macht sie richtig, richtig gut.
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Aber ernsthaft: Eine Tonne Respekt für Miley Cyrus? Da kräuseln sich ja die Fussnägel doppelt und dreifach. Brüste? Kiffen? Sexuelle Anspielungen? Scheisse, wie unoriginell ist das denn!? Mainstreamtaugliche Übertretungen, die mittlerweile von der Gesellschaft toleriert werden und niemanden mehr richtig zu schockieren vermögen.