Hrabowe/Donezk - Wenn sich ein Flugzeugunglück ereignet, läuft in der Regel eine gut eingespielte Maschinerie an. Bestimmte Schritte werden in immer der gleichen Weise und Reihenfolge abgearbeitet, um möglichst schnell und sicher die Ursache der Katastrophe zu bestimmen. Beim Absturz von MH17 auf dem Staatsgebiet der Ukraine aber ist alles anders.
Die klaren Regeln der Internationalen Organisation für Zivilluftfahrt (ICAO), einer Uno-Organisation, werden derzeit aktiv missachtet. Sie sehen vor: «Der Staat, in dem sich ein Unglück ereignet, ist damit betraut, eine Untersuchung der Umstände des Unglücks einzuleiten und diese Untersuchung durchzuführen». Dieser Staat aber ist die Ukraine – und deren Staatsgewalt kann «in diesem Gebiet keine Sicherheit garantieren», wie der stellvertretende Premierminister Wolodymyr Groisman am Sonntag sagte.
Russland und die Ukraine sind ICAO-Mitgliedstaaten, aber die Rebellen im Osten fühlen sich augenscheinlich nicht an internationale Abkommen gebunden. Die Ukraine hat die ICAO offiziell um Unterstützung gebeten, und die Uno-Organisation hatte bereits am Freitag erklärt, ICAO-Experten würden «bald abreisen», um Fachleute der ukrainischen Behörden zu unterstützen. Dass sich die ICAO selbst an einer Untersuchung beteiligt, ist höchst ungewöhnlich.
Experten sollten jedenfalls längst vor Ort sein, spätestens am Freitag hätten sie mit ihrer Arbeit beginnen sollen. Was sie nach einem Flugzeugabsturz genau zu tun haben, hat die ICAO in einem 550 Seiten umfassenden Handbuch zusammengefasst. Zu den Aufgaben der Ermittler gehört zunächst:
In besonders komplizierten oder umstrittenen Fällen wird sogar zu einer Rekonstruktion des Flugzeugwracks geraten. All das aber wird angesichts dessen, was vor Ort bereits geschehen ist, kaum mehr mit der gewünschten Genauigkeit möglich sein.
Die Internationale Zivilluftfahrtskonvention der Uno-Organisation ICAO hat einen 43-seitigen Anhang, der sich nur mit der «Untersuchung von Luftfahrt-Un- und Vorfällen» befasst. Darin heisst es, die zuständigen Ermittler müssten «ungehinderten Zugang zum Wrack und allen relevanten Materialien, einschliesslich Flugschreibern und Flugsicherheitsaufzeichnungen» haben.
Am Absturzort nahe dem ostukrainischen Ort Hrabowe aber hatten bis Samstag nicht Vertreter der Ukraine die Kontrolle, sondern bewaffnete Separatisten. Das Trümmerfeld war Tage nach dem Absturz noch immer nicht abgesperrt, wie ein Sprecher der OSZE bemängelte: «Jeder kann da rein und womöglich mit Beweisstücken herumhantieren.» Augenzeugen berichten von Plünderungen vor Ort. Der niederländische Bankenverband hat sogar Sicherheitsmassnahmen eingeleitet, um Betrug mit den Kreditkarten der Opfer zu verhindern. Diverse Journalisten, die Zugang zur Absturzstelle hatten, berichteten, etwa via Twitter, von geleerten Geldbeuteln, Computer- und Kamerataschen zwischen den Trümmern.
Am Sonntag konnten sich OSZE-Beobachter offenbar relativ ungehindert im Bereich der Absturzstelle bewegen – es handelt sich bei ihnen aber nicht um Fachleute, die zur Untersuchung von Flugzeugabstürzen ausgebildet sind. Üblicherweise werden an den Untersuchungen neben dem Land, in dem der Crash sich ereignet, weitere Staaten beteiligt: das Herstellerland, das Land, in dem das Flugzeug registriert war, das der betroffenen Fluggesellschaft und in Fällen, in denen besonders viele Opfer aus weiteren Staaten stammen, auch die Fluggesellschaft selbst.
Nun aber hat die Untersuchung drei Tage nach dem Abschuss der Maschine noch nicht einmal begonnen, dafür ist die Absturzstelle mittlerweile von zahllosen Menschen durchstreift worden: von zu Hilfe gerufenen Minenarbeitern, Dutzenden Journalisten und Kamerateams, ukrainischen Rettungskräften, bewaffneten Separatisten und eben von Plünderern. AP-Reportern zufolge wurden am Sonntag sogar bereits mit schwerem Gerät Wrackteile bewegt. Rebellenführer Borodai erklärte am Sonntag, man habe «Flugzeugteile, die wie Blackboxes aussehen» an der Absturzstelle entdeckt. Sie würden «internationalen Experten» übergeben, «wenn diese eintreffen».
Fachleute aus diversen Nationen sind offenbar längst in der Ukraine, haben den Unglücksort aber bis Sonntagnachmittag nicht erreicht. Dem «Guardian» zufolge sind sechs Ermittler vom Britischen Air Accidents Investigation Branch bereits im Land und stimmen sich derzeit mit ihren internationalen Kollegen ab. Auch zwei Flugzeugcrash-Ermittler aus Australien sind unterwegs. Rebellenführer Borodai erklärte, er erwarte ein Team von zwölf Experten aus Malaysia. Er sei enttäuscht, dass sie noch nicht eingetroffen seien. Borodai bestritt, dass die Rebellen die Ermittlungen behindern würden.
Allein die Tatsache, dass die Rebellen jedoch offenbar die Blackboxes der Boeing 777 in ihre Gewalt gebracht haben, spricht eine andere Sprache.