Es schüttet in Strömen. Die Strassen sind menschenleer, Rupperswil ist am Samstagmorgen wie ausgestorben. Einen Tag nachdem die Polizei die Verhaftung von Thomas N.* bekannt gegeben hat, können die Dorfbewohner immer noch nicht glauben, dass der Vierfach-Mörder aus ihrer Mitte stammt. Er wuchs mit Familie und Bruder in einer Reihenhaus-Siedlung mitten im Dorf auf. «Das ist entsetzlich», sagt eine Anwohnerin. «Nie hätten wir das für möglich gehalten.»
Nach der Tat lebte der 33-jährige Thomas N. nur wenige hundert Meter vom Haus entfernt, wo er der Mutter Carla Schauer, ihren Söhnen Davin (13) und Dion (19) sowie dessen Freundin Simona F. (21) die Kehle aufschlitzte. Und sich am jüngeren Sohn verging. Das war am 21. Dezember 2015. Danach machte er über Monate weiter, als wäre nichts gewesen. Auch den Nachbarn ist nichts aufgefallen.
«Er war wie immer. Grüsste knapp und war meist mit seinen beiden Hunden unterwegs.» Sein täglicher Spaziergang führte ihn am Fahndungsaufruf vorbei, der unweit seines Hauses aufgehängt war. 100'000 Franken hatte die Polizei auf ihn ausgesetzt. Doch das liess ihn kalt. Er schien sich seiner Sache sicher.
Noch am Abend vor seiner Verhaftung besuchte er einen Fussball-Match in der Region. Bis vor drei Jahren war er selbst Trainer der C-Junioren-Mannschaft «Seetal Selection». Danach wechselte er auf eigenen Wunsch in die Funktion des Mannschaftskoordinators des Klubs. Roland Wenger, Sprecher bei «Seetal Selection», kannte Thomas N. vor allem als Freund des runden Leders. Er sagt: «Thomas ist ein ausgezeichneter Fussballfachmann und gab gute Trainings.» Die Eltern von Fussballspielern, die bei N. trainiert haben, sind trotzdem alarmiert. Denn N. hatte sich am 13-jährigen David sexuell vergangen, bevor er die vier Opfer tötete. Für Wenger ist diese Tatsache unfassbar. «Dass solch eine Tat aus den Reihen eines Junioren-Trainers kommt, ist abscheulich.» Er habe die Eltern vorerst beruhigen können. Im Klub habe es nie einen Vorfall wegen Pädophilie gegeben.
Wenger nahm N. als Einzelgänger wahr. Aber nicht als einen typischen. «In den Trainingslagern sass er durchaus auch am Tisch, wenn wir noch ein Bier trinken gingen», sagt er. Diese Erinnerungen an N. seien jetzt, da Wenger weiss, mit was für einem Menschen er es zu tun hatte, schwer verdaulich. Noch diese Woche habe er ihn in Aarau gesehen.
Über eine andere Begegnung zerbricht sich Wenger seit der Verhaftung von N. den Kopf. «Ich sah ihn kurz vor Weihnachten am Bahnhof Aarau. Und ich kann mich einfach nicht erinnern, ob es vor oder nach dem 21. Dezember – dem Tag des Mordes – war.»
Thomas N. plante in dieser Zeit sogar weitere gleich gelagerte Verbrechen, wie die Polizei am Freitag bekannt gab. Bei der Verhaftung fand sie bei ihm zu Hause in einem Rucksack Kabelbinder, Klebeband und Seile. «Sein Verhalten zeugt von grosser Kaltblütigkeit», sagt Gerichtspsychiater Thomas Knecht. «Das zeigt auch, dass er unter Stress noch sexuelle Lust empfand.»
Seine Interessen für Gewalt und Zerstörung schienen schon seit Jahren in ihm zu schlummern. Seine Matura-Arbeit verfasste er über den Terroristen Osama Bin Laden und die Anschläge von New York. 27 Seiten lang ist das Dokument mit dem Titel «Osama Bin Ladens Motive für die Terroranschläge vom 11. September 2001». Das zeigen Recherchen. Thomas N. verfasste die Arbeit im Jahr 2003 an der Neuen Kantonsschule Aarau. Er belegte dort die Schwerpunktfächer Geistes- und Sozialwissenschaften.
N. galt in der Kantonsschule als unauffälliger Schüler und ist stets mit dem Strom geschwommen. Das war schon in der Primarschule in Rupperswil so. Seine Primarlehrerin erinnert sich: «Er war weder ein besonders guter noch ein besonders schlechter Schüler.» Er sei ihr nicht gross aufgefallen.
Von seinen abartigen Neigungen ist bis zur schrecklichen Bluttat nichts nach aussen gedrungen. Laut Polizei war er ein unbescholtener Bürger. Forensiker Knecht sagt: «Ein Strafregisterauszug zeigt nie alles auf.» Es könne sein, dass der Täter in der Vergangenheit da und dort durch antisoziales Verhalten aufgefallen sei.
Ein Bruch im Leben von Thomas N. war der frühe Tod seines Vaters und Vorbildes. Der hohe Beamte ist 2011 im Alter von 58 Jahren unerwartet zu Hause an einem Herzinfarkt verstorben. «Das war ein schwerer Schlag für die Familie und besonders für Thomas», sagt ein Nachbar, der die Tragödie hautnah miterlebte. «Er ist an seinem Vater gehangen. Sie hatten ein sehr enges Verhältnis.»
Der Nachbar geht davon aus, dass Thomas N. nie über denTod seines Vaters hinweggekommen ist und er sich seither noch stärker zurückgezogen hat. War der Tod ein Mitauslöser für die unterdrückten Gewalt- und Sexualfantasien?
«Wir vermissen dich», steht auf einem Herz, das über dem Urnengrab des Vaters hängt. Wenn Thomas N. auf dem Friedhof Rupperswil um seinen Vater trauerte, lagen keine zehn Meter davon entfernt die von ihm brutalst ermordeten Mitglieder der Familie Schauer begraben.
Während er ihr Leben auslöschte, lebte die Familie N. nach aussen ein harmonisches Miteinander. «Der Tod des Vaters schweisste die Hinterbliebenen noch mehr zusammen. Regelmässig kam der Bruder von Thomas mit seinen Kindern auf Besuch», erzählt der Nachbar.
Die Grossmutter hütete dann jeweils die Enkelkinder, und nichts deutete auf das dunkle Geheimnis von Thomas N. hin, das sich hinter der Mauern der schmucken Einfamilienhaus-Siedlung verbarg.
Nur einmal zeigte der gefühlskalte Vierfach-Mörder bei seiner Tat eine Regung: Den kleinen Malteser-Hund «Chilli» der Familie Schauer liess er am Leben.
* Name der Redaktion bekannt
"Seine Interessen für Gewalt und Zerstörung schienen schon seit Jahren in ihm zu schlummern."