Der Sommer im Aargau hat begonnen – und mit ihm die Saison der Raser. Die Kantonspolizei stellt sich an schönen Wochenenden mit dem Laser-Messgerät gezielt an Landstrassen.
Meldung vom 15. Mai: Kontrollen in Merenschwand, Würenlos und Eiken; vier Ausweisentzüge per sofort; drei weitere Lenker verzeigt; höchste gemessene Geschwindigkeit bei 132 km/h. 21. Mai: Kontrolle in Suhr am Rande eines Tuning-Treffens; zwei Fahrzeuge beschlagnahmt; vier Ausweise entzogen; der schnellste fuhr mit 165 km/h doppelt so schnell als erlaubt. Und schliesslich am Auffahrtsdonnerstag: Kontrollen an mehreren Orten, sieben Ausweise abgenommen, drei Verzeigungen, ein 22-jähriger Töfffahrer wurde mit 132 km/h gemessen.
Fälle wie dieser landen oft auf dem Pult von Kenad Melunovic, 39, Rechtsanwalt und Partner der Kanzleigemeinschaft an der Gais in Aarau. In der Schweiz geboren und in Aarau aufgewachsen, absolvierte Melunovic an der Alten Kantonsschule die Wirtschaftsmatur. Während sein Bruder Elvir als Fussballprofi Karriere machte, tat es ihm Kenad als Anwalt gleich.
Heute ist er einer von 25 diplomierten Fachanwälten für Strafrecht in der Schweiz und Vorstandsmitglied des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Strafverteidigung. Weil in der Auffahrtswoche kein Gerichtstermin ansteht, macht Melunovic gerade eine «Rechtsschriftenwoche». Entsprechend in die Akten vertieft sitzt er im Büro, und entsprechend sieht es darin aus: Auf dem Boden liegen geöffnete Ordner, auf dem Pult Notizen, der aufgeklappte Basler Kommentar, die noch in Folie verpackte neue Ausgabe des Magazins «Plädoyer».
Er fahre selber gern, sagt der Halter eines Audi: «Das Autofahren ist ein Bestandteil der persönlichen Freiheit.» Wenn einer massiv zu schnell fahre, sorge das auch bei ihm für «ein persönliches Unverständnis – mehr aber nicht». Den Raser gebe es nicht: die meisten seien jung, aber die Gründe individuell. Auch das Klischee vom «Balkan-Raser» könne er nicht bestätigen.
Unter seinen Fällen habe er bislang «keinen einzigen typischen Balkanfahrer gehabt, der sich im BMW ein Rennen lieferte. Es waren allesamt unauffällige Bürger verschiedenster Provenienzen.» Wieso sind für ihn Raserfälle besonders interessant? «In Wahrheit», sagt er, «sind sie etwas vom Uninteressantesten, weil der Gesetzgeber den Richter und den gesamten Justizapparat praktisch aus dem Entscheidfindungsprozess ausgeschaltet hat.» Es wird klar: Der Gesprächspartner hält nicht viel vom Raser-Artikel und sagt: «Er ist eine völlige Fehlkonstruktion.»
Erstens stemple das Gesetz jeden, der in einer 30er-Zone mit 70 km/h, in einer 50er-Zone mit 100 km/h, ausserorts mit 140 km/h und bei höheren Höchstgeschwindigkeiten 80 km/h zu schnell unterwegs sei, automatisch als Verbrecher ab. Zweitens sorgten diese fixen Tempogrenzen dafür, dass ein Gericht keinen Spielraum mehr habe: «Der Richter wird zum Durchlauferhitzer degradiert.»
Melunovic steht auf, nimmt einen Filzstift, malt auf ein Flipchart den Ablauf von der Polizeikontrolle bis ins Gefängnis, der vom Gesetz en détail vorgegeben ist. Entzug Ausweis, Einzug Fahrzeug, Strafverfahren, Administrativmassnahmenverfahren, psychologische Begutachtung. Er sage seinen Klienten: «Ich kann Ihnen nicht helfen, ich kann Sie nur begleiten und den ordentlichen Gang des Verfahrens überwachen.»
Ein Versicherungsberater, bis dahin ein unbescholtener Bürger, habe ein neues Auto gekauft, es einmal ausprobieren wollen, bei Sonnenschein und trockener Strasse aufs Gas gedrückt. «Obwohl er niemanden gefährdete, hat er seinen Job verloren, 20'000 Franken Schulden und einen Strafregistereintrag. Seither lebt er auf Kosten des Gemeindewesens. Ich bezweifle, ob das im Sinne des Erfinders ist.»
Melunovics Argumente gegen diese Praxis: Verhältnismässigkeit und Einzelfallgerechtigkeit. Komme ein gefährdendes Element wie Überholen bei schlechten Verhältnissen hinzu, sei er «auch dafür», den Lenker «hart anzupacken». Aber genau deshalb sei der Raser-Artikel eben falsch: «Würde man den Absatz 4 von Artikel 90 mit den starren Tempodefinitionen streichen, würde das Gesetz nicht zahnlos. Im Gegenteil: man könnte auch einen, der in der 30er-Zone ‹nur› 39 km/h zu viel hatte, härter verurteilen.» Man müsse zurück zur Einzelfallbeurteilung. Denn: «Letztlich ist es ‹nur› eine Verkehrsregelverletzung.»
Das aktuelle Regime verursache hohe Kosten durch die psychologische Begutachtung: «Das ist eine reine Industrie», findet Melunovic. Aber eines wolle er betonen: Regelkonformes Fahren sei, gerade bei unserer Bevölkerungsdichte, «eminent wichtig». Dann vibriert sein Telefon. Er liest eine neue Mail quer und sagt: «Jetzt ist wieder einer reingekommen». Der Anwalt muss zurück an den Schreibtisch. Der Sommer im Aargau hat begonnen. (aargauerzeitung.ch)