Bern/Jura
Moutier vor der Abstimmung: Das Ende der Geschichte – oder der Anfang?

Einst das «Belfast der Schweiz», schweigen die Waffen in Moutier. Die Fronten sind dennoch verhärtet

Antonio Fumagalli
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Am 18. Juni zeigt sich, ob diese Pro-Jurassierin weiterhin jubeln kann – dann stimmt Moutier über den Kantonswechsel ab

Am 18. Juni zeigt sich, ob diese Pro-Jurassierin weiterhin jubeln kann – dann stimmt Moutier über den Kantonswechsel ab

Rolf Neeser

Wie ein Stadtheiliger prangt das jurassische Wappen oben über dem Städtchen. Auf einen Fels gemalt, rot und weiss. «Eine Frechheit», sagt Patrick Tobler, Präsident der regionalen SVP-Sektion. Denn hier, hier befindet man sich nicht im Kanton Jura. Noch nicht?

Am 18. Juni stimmt die Bevölkerung von Moutier über die Zukunft ab. Verbleibt die Gemeinde mit ihren gut 7600 Einwohnern im Kanton Bern, wie seit dem Wiener Kongress von 1815? Oder schliesst sie sich dem Kanton Jura an, der erst seit 1979 existiert? Erwartet wird ein knappes Resultat.

Je nach Sichtweise ist die Abstimmung das fulminante Finale eines jahrzehntelangen Unabhängigkeitskampfs, ja gar das Ende des letzten Bürgerkriegs in der Schweiz. Oder möglicherweise der Anfang eines neuen Kapitels. Unbestritten ist: Die Geschichte von Moutier ist geprägt von gegenseitigem Unverständnis, Intrigen, Gewalt. Militanter Höhepunkt waren die Jahre 1974 und 1975, als sich bewaffnete Separatisten mit Berner Gendarmen Strassenschlachten lieferten. Zahlreiche Personen wurden verletzt. «Ich habe nur auf die Polizeiautos, nicht auf Menschen gezielt», sagt ein älterer Herr im «Café de l’Ours» und schweigt sogleich wieder. Die Pro-Jurassier liessen damals ihren Frust darüber aus, dass sich eine knappe Mehrheit für den Verbleib im Kanton Bern ausgesprochen hatte.

Die Fragestellung ist heute die gleiche, und auch jetzt gibt es Nettigkeiten hüben wie drüben. Die Berntreuen provozieren mit einer Inseratekampagne, in welcher der Kanton Jura als von Ratten durchwandertes Ödland dargestellt wird. Der sezessionistische Gemeindepräsident sorgte für rote Köpfe, als er den traditionellen Apéro nach den Sitzungen bis nach der Abstimmung aussetzte. Und da ist noch dieser bemalte Fels, dessen Geschichte so symbolisch für die Polemik rund um Moutiers Kantonszugehörigkeit ist: Jahrelang prangte dort nur das jurassische Wappen, bis Unbekannte vergangenen Sommer in einer Nacht-und-Nebel-Aktion kurzerhand ein Schweizer Kreuz darüber malten. Der Coup der Pro-Berner hielt nicht lange an, keine zwei Monate später tauchte urplötzlich wieder die Jura-Flagge auf – diesmal versehen mit einem fetten «Oui» und einem kleinen Schweizer Kreuz. Die Gemeinde könnte dem Wettstreit ein Ende setzen, doch sie denkt nicht daran. Eine Mehrheit des Gemeinderats tickt selbst separatistisch. «Das ist doch alles nur Folklore», sagt CVP-Gemeindepräsident Marcel Winistoerfer und lacht verschmitzt. Unter seinem Vorgänger flatterte vor dem Gemeindehaus zuweilen gar die jurassische Flagge.

Die Angst um die Gesundheit

Die Posse um den bemalten Felsen zeigt, dass sich das einstige «Belfast der Schweiz» definitiv beruhigt hat. Inhaltlich jedoch wird gerungen wie eh und je. Die Konfliktlinien verlaufen entlang wirtschaftlicher, politischer, religiöser und emotionaler Argumente.

«Einen grossen Kanton zu verlassen, ist wie aus dem Flugzeug zu springen, ohne zu wissen, ob der Fallschirm funktioniert», sagt Patrick Roethlisberger, Präsident der FDP des Berner Jura. Er vermutet etwa, dass das Spital von Moutier im Kanton Jura keine Zukunft hätte. Denn im nur 15 Kilometer entfernten Delsberg steht bereits eines. Neben dem Verlust von qualifizierten Arbeitsplätzen drohe auch eine schlechtere Grundversorgung – ein Argument, mit dem man vor allem bei älteren Leuten auf Stimmenfang geht. Um ihre Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung zu unterstreichen, lassen die Berntreuen nichts aus: An einer Pressekonferenz täuschten sie kurzzeitig einen medizinischen Zwischenfall vor und betonten, dass es länger dauern würde, wenn die Ambulanz nun aus Delsberg anfahren müsste. Gemeindepräsident Winistoerfer entgegnet, dass die Zukunft des Moutier-Spitals auch bei einem Verbleib bei Bern unsicher sei, da es kantonaler Hoheit unterstehe. Auch befürchten die Pro-Berner, dass zahlreiche Verwaltungsstellen bei einem Kantonswechsel nicht mehr benötigt würden, obwohl der Jura betont, diese bei gleichen Löhnen zu erhalten. «Es ist einfach, uns nun alles Mögliche zu versprechen – die Realität wird anders aussehen», ist SVP-Mann Tobler überzeugt.

Um die Argumente mit Fakten zu unterlegen, haben die Kantone Bern und Jura gemeinsam Gutachten bei den Universitäten Lausanne und Luzern bestellt. Die bei einem Kantonswechsel zu erwartenden finanziellen Veränderungen sind für die Bevölkerung demnach gering. Dafür würden die «Prévôtois», wie die Einwohner heissen, an politischem Einfluss gewinnen – im Kanton Jura würde Moutier auf Anhieb zur zweitgrössten Gemeinde und erhielte sieben der sechzig Sitze im Kantonsparlament. Für die Befürworter des Status quo ein trojanisches Pferd: «Wir sind lieber klein in einem starken als gross in einem schwachen Kanton», sagt Roethlisberger.

Wo liegt Aarwangen schon wieder?

Das emotionale Argument – und dieses könnte matchentscheidend sein – haben die Befürworter einer Abspaltung aber auf ihrer Seite. Es geht ums Herz, um die Identität als Teil der jurassischen Familie. «Als ich vor einem Monat die Abstimmungsunterlagen vom Kanton Bern erhalten habe und gefragt wurde, ob ich die Umfahrungsstrasse von Aarwangen befürworte, musste ich zuerst einmal nachschauen, wo diese Gemeinde überhaupt liegt», sagt Julien Berthold, Präsident der Jugendbewegung «Le Rauraque». Mit dem Kanton Bern verbinde ihn im Gegensatz zum Jura weder sprachlich noch kulturell viel. Er sieht für die Jugend auch handfeste Vorteile eines Kantonswechsels, etwa ein ausgebauteres Nachtbusnetz oder eine grosszügigere Unterstützung von Start-ups.

Valentin Zuber, Sohn des langjährigen Stadtpräsidenten und Vorkämpfers Maxime, reiht die bevorstehende Abstimmung in einen internationalen Kontext ein. Weltweit nähmen die Unabhängigkeitsbestrebungen zu, der Wunsch nach politischer Selbstbestimmung wachse. «In diesem Sinn glaube ich, dass eine Angliederung Moutiers an den Kanton Jura eher der Beginn einer neuen, als das Ende einer alten Geschichte wäre», sagt der 28-jährige Kampagnenleiter der «Autonomistes». Mit anderen Worten: Dass der gesamte Berner Jura eines Tages seine Zugehörigkeit neu definiert.

Die Voraussetzungen dazu sind derzeit freilich nicht gegeben. Mit Ausnahme des immer schon rebellischeren Moutier sprach sich die Bevölkerung des Berner Juras erst 2013 mit deutlicher Mehrheit gegen einen Kantonswechsel aus. Doch das könnte sich mittelfristig, sollte Moutier abtrünnig werden und damit gute Erfahrungen machen, wieder ändern. Die Separatisten werden jedenfalls weiterkämpfen – nur nehmen sie die Waffen dafür nicht mehr aus dem Keller.