Etwas scheint faul zu sein im Staate Schweiz. Ihm ist die Fähigkeit zu echten, weitreichenden Reformen abhanden gekommen. Zumindest haben viele diesen Eindruck. Das Jahr 2017 liefert dafür Anschauungsmaterial. Im Februar scheiterte die Unternehmenssteuerreform III in der Volksabstimmung deutlich, obwohl sie praktisch nur von links bekämpft worden war.
Die Energiestrategie 2050 hingegen wurde vor zwei Wochen ebenso klar angenommen. Bei den (Rechts-) Bürgerlichen und der Wirtschaft hielt sich die Freude in Grenzen. Sie beklagen, dass wirklich harte Entscheide vertagt wurden und die Vorlage dem Stimmvolk mit «Zückerchen» in Form von Subventionen «versüsst» wurde. Von einer echten Reform könne keine Rede sein. Ganz ähnlich tönt es bei der Altersvorsorge 2020, über die im September abgestimmt wird.
Der Frust im rechten Lager über die «Unreformierbarkeit» der Schweiz sitzt tief. Er hat sich in letzter Zeit mehrfach publizistisch Gehör verschafft. Mitte März haute der Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung» in die Tasten, nachdem die Rentenreform im Nationalrat mit dem knappstmöglichen Ergebnis angenommen worden war. So lasse sich die Zukunft nicht gestalten, klagte Eric Gujer.
«Die Schweiz findet derzeit nicht die Kraft, um pragmatische Kompromisse mit zukunftsweisenden Ideen zu verbinden. Die Beharrungskräfte verhindern überfällige Innovationen. Alle blockieren einander und damit die Eidgenossenschaft», schrieb er in seinem Kommentar, verbunden mit einer Publikumsbeschimpfung: Das Volk widerlege die Legende, «wonach es stets ‹klüger› entscheidet als die Politprofis», meinte Gujer mit Verweis auf das Nein zur Unternehmenssteuerreform III.
Am letzten Wochenende doppelte das Schwesterblatt, die «NZZ am Sonntag», nach: «Es scheint, als ob der Regierung jedes Zuckerbrot recht wäre, Hauptsache, sie bringt erste Reformschritte durch», hiess es im Leitartikel. Zum verbalen Zweihänder griff die «Finanz und Wirtschaft» in ihrem Kommentar: «Was ist bloss mit der Schweiz los, warum schadet sie sich ohne jede Not selbst und schickt sich an, ihre hervorragende internationale Position zu verspielen?»
Man könnte angesichts dieser Litaneien aus der rechtsliberalen Publizistik meinen, der Untergang der Nation stehe unmittelbar bevor. Sicher, das Energiegesetz und die Rentenreform sind keine grossen Würfe. Es sind pragmatische Vorlagen, die Rotgrün und CVP auf Mehrheitsfähigkeit hin konstruiert haben. Bei der USR III war dies nicht der Fall, deshalb fiel sie durch.
Finanzminister Ueli Maurer hat seine Schlüsse gezogen und in seine am Donnerstag vorgestellte «Steuervorlage 17» ebenfalls ein Zückerchen verpackt: Eine Erhöhung der Kinderzulagen um 30 Franken. Finanzieren muss das die Wirtschaft, sie wird daran wenig Freude haben. Ebenso wenig wird ihr gefallen, dass die umstrittene zinsbereinigte Gewinnsteuer gestrichen wurde.
Maurers Kalkül aber könnte aufgehen. Im Kanton Waadt wurde ein Gesetz, das tiefere Unternehmenssteuern mit zusätzlichen sozialen Wohltaten kombinierte, in der Volksabstimmung mit grossem Mehr angenommen. In der Schweiz kommen Reformen nur durch, wenn zwei wesentliche Punkte beachtet werden:
Die direkte Demokratie wird immer wieder als Standortvorteil der Schweiz bezeichnet. Sie ist aber auch mühsam, denn politische Grossprojekte müssen den «Elchtest» an der Urne bestehen. Das erschwert harte Reformen, die einen Verzicht oder Verlust bedeuten. In einer repräsentativen Demokratie ist es in der Regel einfacher. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder musste seine viel gelobte «Agenda 2010» bloss durch den Bundestag peitschen.
Das muss nicht bedeuten, dass eine direkte Demokratie «reformunfähig» ist. Die «NZZ am Sonntag» verwies auf die 1990er Jahre, als sich die Schweiz mit einer lahmenden Wirtschaft und starkem Anpassungsdruck von aussen herumschlagen musste. Dies erhöhte die Reformbereitschaft. 1992 scheiterte der EWR ganz knapp, acht Jahre später sagte das Volk klar Ja zu den bilateralen Verträgen mit der EU. In den 90ern gelang es auch letztmals, Reformen bei der Altersvorsorge und im Gesundheitswesen durch die Volksabstimmung zu bringen.
Heute ist dieser Leidensdruck nicht vorhanden, der Schweiz geht es gut. Das führt zum zweiten Punkt, der politische Reformen erschwert:
Diese Woche konnte watson den kontroversen US-Ökonomen Tyler Cowen interviewen. In seinem neuen Buch beklagt er die wachsende Selbstzufriedenheit einer Gesellschaft, in der die Menschen ihr vertrautes Umfeld kaum noch verlassen. Sein Befund betrifft in erster Linie die USA, doch er lässt sich auch auf die Schweiz anwenden. Auch bei uns herrscht eine grosse Selbstzufriedenheit, die ergänzt wird durch eine zunehmende Abschottung von einer als feindselig empfundenen Welt.
Die Schweizerinnen und Schweizer empfinden sich als Bewohner einer Wohlstandsinsel. Das fördert eine Tendenz zur Besitzstandswahrung. Ein gutes Beispiel ist die Altersvorsorge. Laut der neusten Vimentis-Umfrage sind weder tiefere Renten noch ein höheres AHV-Alter mehrheitsfähig, obwohl den Leuten bewusst ist, dass die heutigen Rentensysteme nicht gesichert sind.
Einschneidende Reformen sind auf dieser Basis schwer, aber nicht unmöglich. Die Akzeptanz von Rentenalter 67 kann zunehmen, aber die Stimmberechtigten müssen von der Wirtschaft das klare Signal erhalten, dass sie so lange gebraucht werden. Ohnehin funktioniert der Mensch eher über Anreize als über Ge- und Verbote. Man ist eher bereit, eine Solaranlage auf dem Dach zu montieren, wenn ein «Zustupf» durch den Bund winkt.
Man kann das beklagen. Oder sich damit abfinden und die Tatsache würdigen, dass wenigstens wieder Reformen möglich sind, nachdem dies jahrelang kaum mehr der Fall war. Energiestrategie und Altersvorsorge sind nicht für die Ewigkeit gedacht, bieten aber eine gute Basis für künftige Reformschritte.
Die Rechtsliberalen wünschen sich Reformen, bei denen sie den Fünfer, das Weggli und den Schoggistengel noch dazu bekommen. In der Realität der heutigen Schweiz aber laufen sie am Ende auf eine simple Frage hinaus: Ist das Glas halb leer, oder ist es halb voll?