Das Schweizer Fernsehen ermöglichte in letzter Zeit interessante Einblicke in die Niederungen des Volksempfindens. Kürzlich berichtete die «Rundschau» über Wutbürger, die im Internet ihren verbalen Müll abladen – gegen Ausländer, gegen (vorab linke) Politiker, gegen den Islam. Letzte Woche folgte ein «Dok»-Film über den Waffenwahn vieler Menschen in der Schweiz.
Sie verkörpern eine bizarre, ja paranoide Mentalität. «Jeder Bürger soll das Recht haben, mit einer Waffe auf der Strasse herumzulaufen. Das würde den gegenseitigen Respekt erhöhen, und wenn es brenzlig wird, könnte man sich auch wehren», sagt ein Büchsenmacher aus der Ostschweiz. Als ob die Schweizer Strasse eine Kampfzone wäre, in der man sich «Respekt» verschaffen muss.
«Schütze sich, wer kann – Mit Waffen gegen die Angst», lautet der Titel des «Dok»-Films. Es ist eine Maxime, der immer mehr Menschen nachleben. Die Zahl der Waffenverkäufe hat im letzten Jahr praktisch in allen Kantonen zugenommen, teilweise um bis zu 50 Prozent. Die Schweiz rüstet auf, oder zumindest jener Teil, der sich durch Terroranschläge und Gewaltdelikte verunsichert fühlt.
An der Waffenbörse in Luzern herrschte am letzten Wochenende Hochbetrieb, trotz lahm gelegtem Hauptbahnhof. Neben der Angst vor Gewalt sind die Schützen vor allem aus einem Grund in Aufruhr: Letzte verabschiedete das EU-Parlament ein verschärftes Waffenrecht. Die Schweiz als Schengen-Staat muss es übernehmen, sonst droht der Ausschluss aus dem Abkommen.
Der Schweizer Schiesssportverband (SSV) kündigte prophylaktisch das Referendum an und hielt in einer Mitteilung fest, damit werde «auch ein Austritt aus dem Schengen-Vertrag in Kauf genommen». Das Fernsehen legte am Dienstag mit einem «Club» zur «Aufrüstung» der Schweiz nach, in dem lauter vernünftige Menschen eine entsprechend dröge Diskussion führten.
Wie schlimm aber ist es wirklich? Muss man sich nun ein Waffenarsenal anlegen, weil die Eidgenossenschaft bald in Anarchie und Chaos versinkt? Die Realität sieht ganz anders aus, die Schweiz ist so friedlich wie wohl nie zuvor. Das zeigen die diese Woche veröffentlichten Zahlen aus der Kriminalstatistik 2016. Besonders stark abgenommen hat die Zahl der Einbrüche.
Frappierend ist auch der Rückgang bei der Jugendkriminalität, sie hat sich seit 2009 halbiert. Die Berichte über straffällige Jugendliche vorab aus dem Balkan, die vor zehn oder 15 Jahren noch häufig in den Medien erschienen, sind so gut wie verschwunden. Mit gutem Grund: Die damaligen «Problemjugendlichen» sind erwachsen geworden, sie haben Beruf und Familie.
Nicht alles ist eitel Sonnenschein. Bei schweren Gewalttaten wie Tötungen und Vergewaltigungen wurde 2016 tatsächlich eine Zunahme verzichtet. Solche Delikte ereignen sich aber überwiegend im Familien- und Bekanntenkreis. Der anonyme Mörder oder Vergewaltiger, der sich auf unschuldige Opfer stürzt, ist in diesem Land eine seltene Erscheinung.
Eine Sorte Verbrechen erlebt in den letzten Jahren aber in der Tat einen Boom: Die Cyberkriminalität. Genau in diesem Bereich aber stösst der aktuelle Waffenfimmel an seine Grenzen. Gegen den Online-Gangster, der irgendwo im Ausland sitzt und Konten hackt oder Computer blockiert und sie nur gegen Lösegeld wieder freigibt, kann eine Knarre nichts bewirken.
Das beeindruckt die im «Dok»-Film porträtierten Leute nicht. Sie lassen sich durch spektakuläre Einzeltaten stärker beeinflussen als durch amtliche Statistiken. Etwa den Vierfachmord von Rupperswil, ein in mancher Hinsicht rätselhaftes Verbrechen. Eine medizinische Praxisassistentin, die unweit des Tatorts wohnt, hat sich deswegen eine Pistole angeschafft. Und muss sie in einem Tresor verwahren, damit die Enkelkinder sie nicht in die Finger bekommen.
Ein Typ mit Walross-Schnauz kennt niemanden, der angegriffen worden wäre. Er stützt seine Überzeugung, dass die Welt viel unsicherer geworden ist, auf Medienberichte ab: «Ich glaube nicht, dass sie in der Presse nur Scheissdreck schreiben, es muss etwas dran sein.» In dieser Welt ist die «Lügenpresse» offenbar vertrauenswürdiger als statistische Zahlen.
Dies erklärt auch die (Über-)Reaktion auf das EU-Waffenrecht. Die Waffenlobby in Europa hat der Vorlage, die als Reaktion auf die Pariser Terroranschläge vom November 2015 erarbeitet wurde, einige Zähne gezogen. Auch die Schweiz konnte eine Sonderregelung für den privaten Besitz von Armee-Sturmgewehren herausholen.
Bleiben zwei heikle Punkte: Ausserhalb des Militärdienstes sollen nur Magazine mit maximal zehn Schuss Munition verwendet werden dürfen. Beim Schweizer Sturmgewehr sind 20 Schuss die Regel. Auch die geforderte Datenbank für die erteilten Lizenzen zum Schusswaffenbesitz dürfte auf Widerstand stossen. Ein solches Register war 2011 mit der Waffen-Initiative abgelehnt worden.
Der Schiesssportverband begibt sich in den politischen Schützengraben. «Ich erwarte, dass schon das Parlament jede neue Auflage für die Schützen ablehnt», sagte die ehemalige Berner FDP-Regierungsrätin und SSV-Präsidentin Dora Andres der «NZZ am Sonntag». Andernfalls ist das Referendum programmiert, das der SSV mit 130'000 Mitgliedern problemlos stemmen könnte.
Noch ist aber nicht klar, wie die Schweizer Umsetzung konkret aussehen wird. Und Angst vor einer Abstimmung ist nicht angebracht. Es ist fraglich, dass sich die Minderheit der Ballerfreunde durchsetzen kann. Die Alternative wäre ein Ausschluss aus dem Schengen-Abkommen und damit aus dem europäischen Fahndungssystem SIS. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) warnt vor Nachteilen für die Schweiz.
Zehnschüssige Magazine wirken im Vergleich wie das kleinere Übel.