Krawalle haben Konjunktur in Bern. Dreimal kam es in den letzten sechs Tagen zu Ausschreitungen. Auslöser war die polizeiliche Räumung einer besetzten Liegenschaft. Am Freitag und Samstag artete die Gewalt aus, als die Polizei zwei unerlaubte Demonstrationszüge stoppte. Die Bilanz der Krawalle: elf Verletzte, hohe Sachschäden und eine grosse, offene Frage: Wieso immer wieder? Und wieso immer wieder in Bern? Ist das reiner Zufall?
Nein, sagt Manuel, 28, aktives Mitglied in der Berner Hausbesetzerszene. «Das Verhältnis zur Polizei ist in Bern sehr angespannt.» Aus Sicht des Hausbesetzers hat die Polizei die aggressive Stimmung, die immer wieder in gewaltsamen Exzessen ausartet, selber verantwortet.
Manuel zählt auf: das Vorgehen gegen die Proteste im Vorfeld der Miss-Wahlen 2014, die Razzien in besetzten Häusern und das Einschreiten bei einer pro-kurdischen Demo 2015 und am Mittwoch schliesslich die Räumung des besetzten Gebäudes des Bundesamtes für Bauten und Logistik an der Effingerstrasse 29. All diese «brutalen Angriffe» hätten die Stimmung gegenüber der Polizei «sehr aufgeheizt».
Dass sich diese Entwicklung irgendwann entladen und in Ausschreitungen gipfeln würde, das hätten die Verantwortlichen bewusst in Kauf genommen. «Würde man sich mit den Besetzerinnen und Besetzern in Bern an einen Tisch setzen und Lösungen für Zwischennutzungen finden, dann wäre die Situation eine ganz andere», sagt der junge Hausbesetzer.
Der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause sieht das ganz anders. Auch er spricht von «massiver Gewalt». Allerdings gehe die nicht von der Polizei, sondern von ganz bestimmten Kreisen aus der linken Szene aus. Bei den Einsätzen am Wochenende sei die Polizei mit Steinen mit bis zu 15 Zentimeter Durchmesser beworfen worden. Bei der Hausräumung am Mittwoch hätten die Besetzer schwere Gegenstände aus den oberen Stockwerken auf die Polizeibeamten geworfen. Nause spricht von «versuchten Tötungen», von «stundenlangen Attacken».
Von einem Spezialfall Bern will Nause aber nicht reden. «Die gewaltextremistische linke Szene ist ein nationales Problem. Bei den Krawallen am Wochenende machten zum Beispiel auch Gruppierungen aus Zürich mit.» Als Hauptstadt sei Bern zwar öfter als andere Städte Bühne für politische Kundgebungen und damit potenziell auch für Ausschreitungen. Aber auch Zürich habe mit den Binz-Ausschreitungen, der Reclaim-the-Streets-Bewegung oder den Konflikten rund um das besetzte Koch-Areal in letzter Zeit Gewalt erlebt. «Gewaltbereite Hausbesetzer sind kein Berner Phänomen», sagt Nause.
Zwei Positionen, eine unverrückbare Front, kein Kompromiss in Sicht. Das bedauert Giorgio Andreoli, der im Vorstand der «Grossen Halle» sitzt. Die Kulturinstitution ist auf dem Areal der Berner Reitschule beheimatet, wo sich die Gewalt in der Nacht von Samstag auf Sonntag entladen hat. «Solche Vorkommnisse schränken die Möglichkeiten für die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema Hausbesetzung ein», sagt Andreoli, in den 90er-Jahren selbst Mitglied in der Hausbesetzergruppe «Aktion Wohnraum». «Das gegenseitige Schuldzuweisen, dieses Pingpong-Spielen, das muss aufhören.»
Andreoli appelliert an die Besetzerszene, die verstärkt wieder ihre Visionen aufzeigen und klarmachen solle, dass Hausbesetzungen nichts prinzipiell Kriminelles sind, sondern manchmal sogar den Grundstein für eine soziale Institution legen. Andreoli verweist auf Schlafstellen und Frauenhäuser, die aus Besetzungen resultierten. Und schliesslich sei auch die kulturell genutzte Reitschule einst ein besetztes Areal gewesen.
Besonders Besetzer-feindlich sei Bern aber nicht, betont Andreoli. Bereits in den 90er-Jahren habe man schrittweise ein Duldungsrecht etabliert. Andreoli erinnert die Behörden aber daran, Zwischennutzungen unbedingt zuzulassen, wenn irgendwo Wohnraum leerstehe. Die Stadt Bern hat für genau solche Fälle die Koordinationsstelle Zwischennutzung geschaffen, die zwischen Hausbesetzern und -besitzern vermitteln soll.
Zwischennutzungen zulassen, das will man auch in Zürich. Ein bisschen mehr sogar als in Bern. Das geht aus dem 2012 verfassten «Merkblatt Hausbesetzungen» der Stadtpolizei Zürich hervor. Darauf ist klar festgehalten, dass die Polizei Räumungen besetzter Liegenschaften nur dann vornimmt, wenn eine rechtskräftige Abbruch- oder Baubewilligung inklusive Baufreigabe vorliegt. Anders gesagt: Wenn ein Liegenschaftsbesitzer die Hausbesetzer auf seinem Grundstück loswerden will, ohne dass er konkrete Pläne mit der Liegenschaft hat, sind ihm die Hände gebunden. Eine solch spezifische Regelung gibt es in Bern nicht. In der Hauptstadt braucht es eine Anzeige vonseiten des Liegenschaftsbesitzers und einen Räumungsantrag. Dann schreitet die Polizei ein.
Die tolerante Zürcher Handhabe scheint sich auszuzahlen. Die letzten grossen Krawalle liegen zwei Jahre zurück. Im Jahr 2014 verwüsteten Krawallanten die Europa-Allee. Im laut geführten Streit um das Koch-Areal geht es um lärmige Partys und Hanf-Pflanzen, nicht aber um Gewalt.
Selbst am 1. Mai, dem Krawalldatum schlechthin, kommt es kaum noch zu Ausschreitungen. Dank einer Mischung aus Dialog und teurer Repression. Die Kosten für die Polizeieinsätze überschreiten bisweilen die Millionengrenze. Willy Schaffner war vor seiner Pensionierung im Jahr 2014 praktisch an jeder Demonstration und vermittelte zwischen Aktivisten und dem Einsatzleiter. «In Zürich ist es in letzter Zeit relativ ruhig geworden», sagt er. Das habe verschiedene Gründe. «Es gibt in der Politik einen Konsens, besetzte Liegenschaften zu dulden.» Zudem setze man auf Prävention statt nur purer Repression.
Die Ruhe in Zürich sei aber trügerisch. «Es kann sehr schnell gehen, bis wieder eine Situation eskaliert», sagt er. Schaffner möchte die Vorfälle in Bern nicht kommentieren. Aber er rechnet nicht damit, dass es zu einem Flächenbrand kommt. «Es gibt es immer wieder, dass sich solche Auseinandersetzungen hochschaukeln. Ob in Bern oder in anderen Städten. Das legt sich dann aber meist wieder», sagt Schaffner. Grundsätzlich rät er davon ab, das Problem nur mit Gummischrot und Wasserwerfern zu lösen. «Während meiner Zeit als politischer Polizist habe ich gelernt, dass das wichtigste Mittel die Prävention ist.»
Ob die Ruhe in Zürich anhält, ist fraglich. Bereits am 11. März steht die traditionell unbewilligte Demonstration zum «Frauenkampftag» an. Am Sonntag, dem 19. März, feiert die Zürcher SVP ihr hundertjähriges Bestehen im Kongresshaus. Antifaschistische Aktivisten haben sich unter dem unzimperlichen Motto «Linke Fäuste gegen rechte Hetze» angekündigt. Der gleiche Flyer ruft zum Widerstand gegen einen Aufmarsch von SVP-Sympathisanten auf. Er findet am Samstag, 18. März, in Bern statt. Dann wird sich die Polizei also wieder mit Aktivisten aus Zürich herumschlagen müssen, in der Stadt, in der Krawall zurzeit Konjunktur hat. (aargauerzeitung.ch)