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Alexander Tschäppät: Das Interview zum Abgang der Berner Stapis

«Herr Tschäppät, mögen die Leute auch die frivole Seite, die Ihnen anhaftet?»

Mit Alexander Tschäppät verliert die Schweiz einen der pointiertesten Politiker an der Spitze einer Stadt. Im Interview blickt der Sozialdemokrat auf die neue Politikergeneration und erklärt, warum in Bern alles etwas anders läuft.
21.10.2016, 08:2921.10.2016, 09:46
Christian Dorer und Daniel Fuchs / Nordwestschweiz
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Sie sind die letzte Saftwurzel an der Spitze einer Stadt. Warum wirkt die neue Politikergeneration so konturlos?
Alexander Tschäppät:
Sie traut sich nicht, Fehler zu begehen. Das liegt auch daran, dass die Jungen mitbekommen haben, dass Politiker wie ich grauenhaft zur Kasse kommen, wenn sie einen Seich gemacht haben. Ich aber denke nicht, dass meine Art der Politik dazu führt, dass einen die Leute weniger mögen.

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Der abtretende Stadtpräsident Alexander Tschäppät: Die aktuelle Sexismus-Debatte, dieser prall gefüllte Kelch, ging auch an ihm nicht spurlos vorbei.Bild: keystone

Dann ist der Bürger tolerant und verzeiht auch Ausrutscher?
Der Bürger ist extrem tolerant, wenn einer seinen Grind hinhält, zu Fehlern steht und sich dafür entschuldigt. Die Bürger wollen keine makellosen Politiker. Sondern solche, die ihnen das Gefühl geben: «Der ist ja ähnlich wie du und ich.»

Mögen die Leute auch die frivole Seite, die Ihnen anhaftet?
Frivol? Wieder so ein Begriff. Wissen Sie, was frivol heisst? Es heisst unanständig, unmoralisch, zweideutig. Das bin ich nicht. Vieles sagt man mir einfach nach. Zum Beispiel, ich sei ein Cüpli-Sozialist und mir für keine Hundsverlochete zu schade. Dazu sage ich nur: Wenn einer den Auftrag fassen würde, mich nach 22 Uhr in einer Berner Spunte aufzuspüren, hätte er grosse Mühe. Da bin ich schon lange nicht mehr anzutreffen. Das hat einfach damit zu tun, dass ich müde bin. Mit 30 konnte ich auf den Putz hauen, kalt duschen und dann weitermachen. Nach 60 machst du das einfach nicht mehr. Mein Ruf hallt mir nach. Heute ist das schon fast flattierend.

Ex-Nationalrätin Aline Trede hat Sie in der Sexismus-Debatte erwähnt und wirft Ihnen vor, Sie am Knie berührt zu haben. Was sagen Sie dazu?
Ich bin mir keiner solchen Situation bewusst. Sollte eine solche Berührung je stattgefunden haben, so hatte sie höchstens einen kollegialen, aber sicher keinen sexuellen Hintergrund.

Gehen Sie eigentlich manchmal in die Reitschule?
Nicht mehr so oft. Hin und wieder ins Restaurant oder ins Theater. Letzthin spielte Büne Huber im Konzertlokal. Doch das war nach 22 Uhr. Und ich gebe zu, das ist mir einfach zu spät, wirklich. Bis du daheim bist, ist halb zwei, um sechs gehe ich mit den Hunden spazieren. Das schaffe ich einfach nicht mehr. Doch es wäre ja auch schlimm, wenn die Reitschule auf ein Ü60-Publikum ausgerichtet wäre.

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Ein kleines Rätselbild aus dem Jahr 1989: Wo sitzt Alexander Tschäppät? Genau, ganz rechts.Bild: KEYSTONE

Warum kriegen Sie die Probleme mit Gewalttätern, die in der Reitschule Unterschlupf finden, nicht in den Griff?
Diese Probleme gibt es überall. In anderen Städten kommt es genauso zu Gewaltausbrüchen. Was mich dabei ärgert, ist unsere bigotte Gesellschaft: Die Vorortsgemeinden wollen Ruhe, finanzieren einen Nachtbus und schicken ihre Jungen in die Stadt. Alle Grossverteiler lassen Billigbier raus und verkaufen Wodkaflaschen zu zehn Stutz. Und dann regt man sich auf, wenn bei der Reitschule betrunkene Jugendliche nicht wissen, wie man sich zu benehmen hat. Ich verlange von den Leuten, dass sie sich das mal durch den Kopf gehen lassen statt zum Tschäppät zu rennen und zu verlangen: Mach endlich diese Reitschule zu!

Wo beginnt sexuelle Belästigung? (18. Oktober 2016)

Er hätte ihr ans Bein gefasst: So der Sexismus-Vorwurf der Grünen Aline Trede an Berns Stapi Tschäppät. Wo beginnt sexuelle Belästigung und wo hört sie auf? Video: © TeleM1

Sie sind bekannt dafür, dünnhäutig auf Kritik zu reagieren. Sie selbst sagten von sich, eine Mimose zu sein.
Das ist so und ich stehe dazu. Ich bin bis heute vor jedem Auftritt extrem nervös. Es stresst mich, ans Rednerpult zu treten. Es verunsichert mich, ein Referat zu halten. Ich bin eigentlich schüchtern, auch wenn die Fassade anderes vermuten liesse. Und ja, Kritik regt mich fürchterlich auf.

Ende Jahr treten Sie als Stapi der Bundesstadt ab. Sagen Sie uns etwas über die Berner. Sind sie in allem etwas langsamer, wie es das Klischee besagt?
Eine Studie aus London schloss, dass die Menschen aus Bahrain und Malawi noch langsamer unterwegs sind als die Berner. Wir sind eine sehr aufgeschlossene Stadt, haben aber mit dem Image einer trägen Beamtenstadt zu kämpfen. Die Geschwindigkeit, wie sie in Zürich gerne verstanden wird, verstehe ich als «Gjufu».

Seit mehr als 24 Jahren wird Bern rot-grün regiert: Täte Abwechslung nicht gut?
Seit mehr als 160 Jahren wird die Schweiz bürgerlich regiert. Täte Abwechslung nicht gut? Aus der Sicht eines Sozialdemokraten ist klar: Bern soll rot-grün bleiben. Für die Kontinuität von Rot-Grün gibt es zwei Gründe: Rot-Grün hat in den Städten frühzeitig erkannt, worin die Erfolgsmodelle bestehen. Zweitens: Als Politiker sind Sie nur so gut, wie es der Gegner zulässt. Und wenn ich mir in Bern die bürgerlichen Parteien ansehe, dann muss ich sagen: Die sind nicht aufgestellt, eine Mehrheitspolitik zu machen.

Wie meinen Sie das?
Die SVP ist in Bern gegen alles: gegen jedes Schulhaus, gegen jeden Kindergarten. Dagegen zu sein ist Programm. Oder das Beispiel Reitschule: Selbst wenn es manchmal ein Ärgernis ist, müsste jede bürgerliche Partei begriffen haben: Allein mit Opposition gewinnst du keinen einzigen Wähler dazu, sondern hältst höchstens die eigenen Wähler bei Laune. Und darin liegt eine Gefahr für Rot-Grün: Wir sitzen so fest im Sattel, dass wir es verlernt haben, Kompromisse zu schmieden. Wir hatten es gar nie nötig, auf andere einzugehen, um Mehrheiten zu finden. Darin liegt das eigentliche Gift. Ich war immer einer jener, der sagte: Gebt doch etwas nach, dort wo es nicht gerade fundamentale Werte tangiert. Übrigens machen jetzt SVP und FDP im Nationalrat den gleichen Fehler, indem sie zum Beispiel bei der Altersvorsorge rücksichtslos durchmarschieren.

Ist die Bundesverwaltung eigentlich Fluch oder Segen für Bern?
Alles, was qualitativ gute Arbeitsplätze sichert, ist ein Segen. Lange wurde die Stadt wegen der Bundesverwaltung belächelt. Aber es ist meinen Vorgängern hoch anzurechnen, dass sie Sorge trugen zur Post, zu den SBB und zur Verwaltung. Heute sind das attraktive Arbeitgeber. Die Post wurde zu einer Bank, die SBB zu einer der grössten Liegenschaftsbesitzerinnen. Und auch die Bundesverwaltung bietet qualitativ hochstehende Jobs. Über die hohen Löhne sind diese Institutionen auch steuertechnisch interessant für Bern.

Berner finden beim Staat bequeme Jobs ausserhalb des wirtschaftlichen Wettbewerbs. Macht das nicht träge?
Die Bundesverwaltung macht weniger aus, als man denkt. Wir haben 185'000 Arbeitsplätze bei einer Wohnbevölkerung von ungefähr 140'000 Einwohnern – nur rund 17'500 davon sind Bundesstellen. Wir sind die Stadt mit dem mit Abstand grössten Überhang an Jobs. Einer der grössten Arbeitgeber ist das Inselspital.

Trotzdem ist Bern nicht dynamisch, was die wirtschaftliche Entwicklung betrifft.
Okay, aber wir haben weniger Auf und Ab als andere Städte. Das heisst: Wenn es allen anderen sehr gut geht, dann geht es der Stadt Bern nur mässig gut. Doch wenn es allen anderen mies geht, dann geht es der Stadt Bern immer noch mässig gut. Das ist eine Qualität, denn man kann langfristiger planen. Dazu kommt: Die Stadt Bern mit ihren Agglomerationsgemeinden würde als eigenständiger Kanton zu den fünf dynamischsten der Schweiz gehören. Aber die Stadt Bern trägt enorme Zentrumslasten. Sie ist der wichtigste Wirtschaftsmotor in einem teuren Kanton.

Ist es nicht etwas bequem, sich ständig hinter diesem Argument zu verstecken?
Nein, wenn man in Gadmen am Sustenpass Schnee räumen muss, dann kostet das nun einmal für wenige Leute viel Geld. Ich müsste daher der Erste sein, der sich für einen Halbkanton bestehend aus der Region Bern ausspricht. Da müsste sich Bern überhaupt nicht verstecken. Trotzdem fordere ich keinen Halbkanton, weil das unsolidarisch gegenüber den ländlichen Regionen wäre.

Stört es Sie, dass Leute, die in Bern arbeiten, häufig ihren alten Wohnsitz behalten, um Steuern zu sparen?
Natürlich. Mir wäre lieber, dass alle 185'000 Menschen, die in Bern arbeiten, auch in Bern ihre Steuern zahlen würden. Wenn wir Umfragen machen, dann kommen für Berner die Steuern erst etwa an siebter Stelle. Andere Dinge sind wichtiger, zum Beispiel Kitas oder die Schulwegsicherheit. Zuzügern rate ich, die Gesamtrechnung zu machen, die Mietzinsen etwa also zur Steuerbelastung hinzuzuzählen.

Was waren Ihre grössten Fehler?
Ich habe doch noch nie einen Fehler gemacht! Nein, im Ernst, der grösste Fehler lag wohl darin, dass ich mir zu wenig Zeit genommen habe für die Familie.

Das weiss man doch, bevor man ein solches Amt antritt.
Ja, aber wirklich realisieren tut man es dann, wenn es zu spät ist.

Jetzt auf

Als Sozialdemokrat haben Sie sich eine Luxuswohnung auf dem Gelände der feudalen Burgergemeinde gekauft. Sie standen danach arg in der Kritik. Haben Sie den Kaufentscheid bereut?
Nein! Ich habe nie verstanden, weshalb man einem 60-Jährigen vorwirft, eine Eigentumswohnung zu kaufen. Und es ist doch super, dafür stehen wir Sozialdemokraten doch gerade ein: für eine Teilhabe an Besitz! Alle sollen sich etwas leisten und vom Wohlstand profitieren können. Das Ziel ist doch, dass es uns allen gut geht. Es ist ein Grundprinzip der Sozialdemokratie, den Verteilmechanismus vom Reichen zum Nichtreichen zu verbessern. Jeden, den wir dazu bringen können, dass es ihm besser geht, ist doch Gold wert! Darum heissen wir Sozialdemokraten. Sozial steht für Umverteilung zugunsten der Büezer und der Mittelklasse.

Sie sagten einmal, Sie könnten sich vorstellen, als ewiger Botschafter Berns weiterzumachen. Heisst das, dass Sie Ihrem Nachfolger dauernd dreinreden werden?
Es ist eine Gefahr und ich hoffe, ich kann es so gut machen wie mein Vorgänger und mich raushalten. Doch es ist vieles denkbar, ohne in der Politik mitzumischen. Ich könnte mir vorstellen, die touristische Vermarktung Berns mitzugestalten.

Sie sahen sich auch mal als politischer Kabarettist. Müssen wir uns nun auf Italiener-Witze und Blocher-Verunglimpfungen gefasst machen, wie Sie sie auch schon zum Besten gegeben haben?
Die Blocher-Sache war dumm und ich hatte mich dafür entschuldigt. Bei den Italiener-Witzen hingegen habe ich ein Problem. Nämlich dann, wenn man sich solche Witze aus falsch verstandener Political Correctness nicht mehr erzählen kann. Die sind doch harmlos! Doch ich meinte es ernst mit dem politischen Cabaret, denn ich vermisse in diesem Land Humor.

Ihre Söhne wollen nicht in die Politik. Bei Ihnen war das anders: Sie traten in die Fussstapfen Ihres Vaters, der selbst Stapi war. Dabei waren Sie ein Rebell. Warum haben Sie nicht aufbegehrt?
Mein Vater konnte nur über zwei Dinge sprechen: Politik und YB und ich war sein Sparringpartner und so kam ich rein. Wie hätte ich denn aufbegehren können?

Mitglied einer bürgerlichen Partei werden zum Beispiel. Oder auf der linken Seite als gewaltbereiter Reitschüler Steine auf Polizisten schmeissen.
Ich war ein 68er, habe aber nie Pflastersteine geworfen. Nein, was mich damals am meisten ärgerte in diesem Land, waren Leute, die die Faust im Sack machen. Man hat so viele Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Sei das in der Politik oder in der Freiwilligenarbeit. Aber was ich nicht akzeptiere: Dieses Am-Montagmorgen-Aufstehen und Sich-Überlegen, worüber man sich nun beklagen kann in einem Leserbrief. Ich sah Politik als Möglichkeit, mitzugestalten. 

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