Sieben Monate später, am 7. August 2015*, wird Natalie K., 27 Jahre alt, gelernte Altenpflegerin, leblos in ihrer Zelle im Bezirksgefängnis Zürich gefunden. Sie hat sich nach dem Mittagessen selbst stranguliert.
Ihr Tod markiert das Ende einer Tragödie, bei der zwei Kinder ihr Leben lassen mussten und eine Mutter das ihrige beendete – jene Tragödie, die als «Fall Flaach» durch die Medien geschleppt und von Gegnern der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) als Vehikel für massive Kritik an der KESB benutzt wurde.
Eine dieser Kritikerinnen ist die Schriftstellerin Zoë Jenny, berühmt geworden mit ihrem Roman «Das Blütenstaubzimmer», berühmt geblieben mit ihrem Kreuzzug gegen die Anfang 2013 ins Leben gerufene Behörde. Nun gibt Jenny das Buch «Meine Geschichte beginnt in einem wunderbaren Dorf» heraus. Es handelt sich dabei um die Manuskripte, die Natalie K. im Februar vor zwei Jahren in ihrer Zelle hinterlassen hat. K. habe Jenny selber gebeten, das Buch herauszugeben.
Es ist ein Rechenschaftsbericht geworden – nach der Tat und vor der Tat. Der forensische Psychiater Frank Urbaniok wird Natalie K. nach dem Mord an ihren zwei Kindern eine psychische Störung attestieren. Sie habe einen ausgeprägten Geltungsdrang – gepaart mit einem Hang zur grossen Geste.
Auf knapp hundert Seiten schildert Natalie K. in chronologischer Folge Episoden aus ihrem Leben. Aus einer idyllischen Kindheit im Schoss der Familie, die aber durch mobbende Mitschüler getrübt wurde, aus einer Jugend, die geprägt war von einer glücklichen und erfolgreich abgeschlossenen Lehrzeit und der Liebe ihres Lebens, Mike K., und aus einem frühen Erwachsenenleben, in dem sie rasch doppelte Mutter wurde von zwei Kindern, die sie an der Silvesternacht 2014 im Alter von 2 und 5 Jahren mit eigenen Händen im Schlaf erstickte.
Episode für Episode lässt Natalie K. den Leser in ihre Psyche blicken – aber eben nur oberflächlich. Abgründe tun sich keine auf, nicht mal vor der Tat in der Silvesternacht 2014. Damit (und weil der Ausgang der Tragödie jedem bekannt ist) verliert auch der Eindruck, den Natalie K. zu erwecken versucht, sie sei ihr Leben lang eine gute Mutter gewesen, habe aber einfach sehr, sehr viel Pech gehabt, an Glaubwürdigkeit.
Gerichtspsychiater Thomas Knecht, der sich bereits im Juni 2016 zu Teilen des Manuskripts äusserte, befand, der Text, den die 27-Jährige in ihrer Zelle hinterlassen hatte, zeige den Narzissmus von Natalie K.: Sie belaste andere und wasche sich selber rein. Dass sie die Tat damit nicht rechtfertigen könne, sei ihr wohl bewusst gewesen, sagt Knecht, deshalb habe sie sich vermutlich das Leben genommen. So konnte sie sich ihre Version der Geschichte aufrecht erhalten.
In zahlreichen Abschnitten und Aussagen zeigt sich Natalie K. selbst als hingebungsvolle Mutter, eingebettet in eine liebevolle, intakte Familie. Natalie K. manipuliere damit den Leser, sagt Knecht, besonders Mütter, indem sie als Begründung angebe, dass sie ihre Kinder nicht habe enttäuschen wollen. Weder dieses, noch irgend ein anderes Argument aber rechtfertige eine solche Tat, sagt Knecht.
Natalie K. scheint naiv durchs Leben zu stolpern, was so lange gut geht, bis ihr Ende 2013 von der Polizei eröffnet wird, dass ihr Mann mehrere Leute um Geld betrogen hat, um der Familie einen Lebensstandard zu finanzieren, der weit über ihren Verhältnissen liegt.
Bis ihr, ein knappes Jahr darauf, verweigert wird, den Sohn in den Kindergarten im Nachbardorf zu schicken, wo die Familie ein Haus kaufen will, das sie sich nicht leisten kann. Bis die Schule aufgrund des Zustands des Sohnes eine Gefährdungsmeldung bei der KESB einreicht und die Polizei wegen mehrfachen Betrugsverdachts das Elternpaar verhaften will. Auch durch diese Ereignisse stolpert Natalie K., mehr so nebenbei, immer das Wohl der Familie im Blick. Die Hölle, das sind die anderen.
Der Gutachter Frank Urbaniok wird später urteilen, Natalie K. habe sich eine Scheinwelt aufgebaut. Die Eltern, die ihrer Tochter sehr nahe standen, werden sagen, sie habe oft fantasiert. Mike K., der im September 2016 wegen Betrugs zu 42 Monaten Haft verurteilt werden wird, wird bei seinem Prozess zu Protokoll geben, Natalie K. habe keine Lust mehr gehabt, zu arbeiten, aber immer mehr gewollt.
K. wirft der Behörde im Buch leere Versprechungen, einen schlechten Umgang mit ihren Kindern, Kaltblütigkeit und Faulheit vor. Nie habe sich die KESB für sie interessiert, nie eine Platzierung der Kinder bei ihren Eltern geprüft. Die Behörde habe, so K., von Anfang an vorgehabt, ihre Kinder länger im Heim zu behalten. Das Buch liest sich, zunächst zurückhaltend, mit jeder Seite aber wütender, als scharfe Anklage aus der Gefängniszelle.
Zwei Experten werden später in einem Gutachten festhalten, dass die Massnahmen der KESB nachvollziehbar gewesen seien – sowohl der Obhutsentzug, als auch, die Kinder im Heim zu behalten. Allerdings kritisiert dasselbe Gutachten, dass die Behörde nicht gut kommuniziert habe, die Eltern von Natalie K. nicht genug einbezogen und eine Platzierung bei ihnen nicht genügend geprüft hätte. K. jedenfalls fühlt sich von der Behörde betrogen. Ihre zunehmende, wahnhafte Verzweiflung wandelt sich auf Papier zu einer Entschlossenheit, die Kinder nicht zu enttäuschen, ihnen das Heim zu ersparen.
Wie Herausgeberin Zoë Jenny auf Anfrage sagt, habe K. sie darum gebeten, das Buch zu publizieren. «Ich habe mir das nicht gewünscht», sagt Jenny, «doch ich wusste, ich muss diese Aufgabe zu Ende führen». In der ganzen Tragödie habe die Mutter ihre Sichtweise nie darlegen können.
Jenny hofft, dass die Veröffentlichung ein anderes Licht auf den Fall werfen wird. Denn die Klarheit, mit der sich Natalie K. in ihrem Buch ausdrücke, widerspreche dem Bild einer verwirrten Frau und zeige vielmehr das einer liebenden Mutter, die am Kampf gegen die Behörde verzweifelt sei. Eine Behörde, die sich im Fall Flaach weder Fehler eingestanden habe und deren Macht aufgrund der Fehler trotzdem nie beschränkt worden sei.
* In einer früheren Version dieses Artikels stand, Natalie K. hätte sich am 7. Februar 2015 das Leben genommen. Richtig ist der 7. August 2015. Wir entschuldigen uns für den Fehler.