Eine unendliche und penible Geschichte hat ihr vorläufiges Ende erreicht. Das Parlament hat die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) in einem für hiesige Verhältnisse ungewöhnlichen Kraftakt zu Ende beraten, kurz vor Ablauf der dreijährigen Frist, die im Verfassungsartikel 121a enthalten ist. Am Freitag wird sie in der Schlussabstimmung definitiv verabschiedet.
Die SVP wird als einzige Partei geschlossen mit Nein stimmen, aber dennoch auf ein Referendum verzichten. Sie kann damit praktisch nur verlieren, auch wenn das Stimmvolk ihr folgen und das revidierte Ausländergesetz ablehnen sollte. «Ich glaube schlicht nicht, dass das Parlament plötzlich ein griffiges Gesetz verabschieden würde», sagte SVP-Präsident Albert Rösti der «Berner Zeitung». Und bei einem Ja würde das Volk den «Verfassungsbruch» des Parlaments legitimieren.
Was aber bringt die MEI-Umsetzung konkret? Und wie geht es weiter? Die wichtigsten Punkte:
Das neue Gesetz sieht keine Steuerung der Zuwanderung mit Höchstzahlen und Kontingenten vor, wie in Verfassungsartikel 121a gefordert. Auch von einem Inländervorrang kann keine Rede sein. Es handelt sich eher um einen Arbeitslosenvorrang. An der Nicht-Umsetzung ihrer Initiative ist die SVP mitschuldig. Sie scheute vor einer Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU zurück und verlangte stattdessen, sie neu zu verhandeln und anzupassen. Die EU jedoch schaltete spätestens nach dem Brexit-Entscheid auf stur und verweigerte jegliche Zugeständnisse.
Es will die Chancen von Arbeitslosen auf einen neuen Job verbessern. Das Parlament erhofft sich dadurch eine Drosselung der Zuwanderung. In Berufsgruppen und Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit müssen offene Stellen den Arbeitsämtern gemeldet werden. Diese sollen den Arbeitgebern geeignete Bewerber vorschlagen. Eine generelle Anhörungspflicht aber gibt es nicht. Die Arbeitgeber können selber entscheiden, wen sie zum Bewerbungsgespräch einladen wollen, und sie müssen eine Absage nicht begründen, sondern bloss mitteilen.
Von einer Privilegierung inländischer Stellensuchender ist das Parlament abgerückt, weil dies das Freizügigkeitsabkommen verletzten würde. Nun können theoretisch alle EU-Bürger berücksichtigt werden, die sich bei einem RAV in der Schweiz anmelden. Falls die gewünschte Wirkung nicht eintritt, können weiter gehende Massnahmen beschlossen werden, auch auf Antrag stark belasteter Kantone. Allerdings gilt auch hier: Das Freizügigkeitsabkommen hat Vorrang.
Das ist nicht sicher. Die Massnahme beschränkt sich wie erwähnt auf bestimmte Berufsgruppen und Regionen. Der Nationalrat wollte als Kriterium eine «erheblich über dem Durchschnitt liegende Arbeitslosigkeit» festlegen. Der Aargauer FDP-Nationalrat Matthias Jauslin bezifferte die Quote auf 10 bis 15 Prozent, womit nur sehr wenige Bereiche betroffen gewesen wären. Dem Ständerat war diese Hürde zu hoch, er strich das Wort «erheblich».
Wie hoch die Quote sein wird, steht nicht fest. Der Bundesrat wird sie in der Verordnung zum Gesetz festlegen. Die Werte dürften nicht so hoch sein, dass gar nie Massnahmen ergriffen werden könnten, sagte Justizministerin Simonetta Sommaruga. Sie dürften aber auch nicht so tief sein, dass es ständig Einschränkungen gebe. Absehbar ist: Die meisten Arbeitslosen in der Schweiz werden vom Gesetz nicht profitieren. Sie hoffen vergeblich auf einen neuen Job.
Die grossen Verbände scheinen mit der Vorlage leben zu können. In den betroffenen Branchen sieht dies anders aus. Das betrifft insbesondere das Bau- und das Gastgewerbe. Sie weisen in gewissen Regionen eine relativ hohe Arbeitslosigkeit auf, rekrutieren aber nach wie vor stark im Ausland. Das neue Gesetz geht ihnen trotzdem zu weit.
«Die vorgeschlagene Lösung bringt Arbeitslosen keinen Vorteil, vermag die Zuwanderung nicht zu reduzieren und lähmt personalintensive Branchen durch nutzlose Bürokratie», hielt Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer in einem Brief an die NZZ fest. Andreas Züllig, Präsident von hotelleriesuisse, sprach gegenüber der «hotelrevue» von einem «Bürokratiemonster sondergleichen».
Neben der Höhe der Arbeitslosenquote ist es die Frage, wie weit die Arbeitgeber verpflichtet sind, Stellensuchende zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Das Gesetz lässt hier einigen Interpretationsspielraum. Bundesrätin Sommaruga betonte, die Arbeitgeber seien dazu verpflichtet. Wer sich vorsätzlich weigert, kann mit Bussen bis 40'000 Franken bestraft werden.
Auch für FDP-Ständerat Philipp Müller ist der Arbeitgeber «in der Pflicht», wie er im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» erklärte. Er könne «nicht einfach bei jedem vorgeschlagenen Bewerber sagen: nicht geeignet». Die betroffenen Branchenverbände hingegen wehren sich vehement gegen eine Interviewpflicht. Und Bruno Sauter, der Chef des Amts für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich, warnte in der NZZ vor einer «Flut von Rechtsfällen».
National- und Ständerat haben im Juni beschlossen, dass die Schweiz die Personenfreizügigkeit erst auf Kroatien ausdehnen soll, wenn eine Lösung mit der EU in der Zuwanderungsfrage vorliegt. Nun musste die Schweiz die MEI einseitig umsetzen. Dennoch ist es der stillschweigende Konsens, dass der Bundesrat das Kroatien-Protokoll mit der vorliegenden Lösung ratifizieren kann. Andernfalls kann die Schweiz nicht länger am EU-Forschungsprogramm Horizon 2020 teilnehmen.
Simonetta Sommaruga wollte sich während den Beratungen im Parlament nicht festlegen. Der Bundesrat werde nach der Schlussabstimmung entscheiden. Dies dürfte nur eine Formsache sein und die Ratifizierung spätestens im Januar erfolgen. Ein möglicher Stolperstein wäre ein Referendum, doch nach dem Verzicht der SVP ist es wenig wahrscheinlich, dass ein solches ergriffen wird, geschweige denn zustande kommt, trotz Unmut in Teilen der Wirtschaft.
Die Schweiz erhält mit dem Gesetz höchstens eine Atempause, denn nach wie vor steht der Vorwurf des Verfassungsbruchs im Raum. Mit einem Gegenvorschlag zur RASA-Initiative, die eine Streichung von Artikel 121a verlangt, will der Bundesrat dieses Dilemma auflösen. Justizministerin Sommaruga drängt laut der «SonntagsZeitung» auf ein forsches Tempo, sie will das Thema angeblich bereits in einer Sondersitzung am Freitag behandeln. Damit wolle sie auch der SVP zuvorkommen, die mit einer Volksinitiative zu Kündigung der Personenfreizügigkeit liebäugelt.
Wie der Gegenvorschlag aussehen wird, ist unklar. Sommaruga soll zu einer offensiven Strategie tendieren, die den Vorrang der bilateralen Verträge in der Verfassung festhält. Fraglich ist, ob sie eine Mehrheit im Bundesrat davon überzeugen kann. Johann Schneider-Ammann (FDP) und Doris Leuthard (CVP) tendieren gemäss «Blick» dazu, lediglich die dreijährige Umsetzungsfrist aus der Verfassung zu streichen. Der Bundesrat soll dadurch mehr Zeit für Verhandlungen mit der EU erhalten.
Ein Resultat dass niemanden wirklich zufrieden stellen kann.
So wird das Instrument der Initiative in seiner Wirkung gemindert, weil die Umsetzung der Initiative schon am Anfang mit anderen Verträge, welche auch demokratisch legitimiert sind, (bewusst) kollidiert.