Schweiz
Steuerstreit

Tiefe Steuern für reiche Ausländer: Wirtschaftlich unvernünftig und moralisch pervers

Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel verdient sein Geld im Ausland und versteuert einen Bruchteil davon im Thurgau.
Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel verdient sein Geld im Ausland und versteuert einen Bruchteil davon im Thurgau.Bild: AFP
Abstimmung zur Pauschalbesteuerung

Tiefe Steuern für reiche Ausländer: Wirtschaftlich unvernünftig und moralisch pervers

Wie das Bankgeheimnis hat sich die Pauschalbesteuerung für superreiche Ausländer überholt. Deshalb ist es höchste Zeit, sie abzuschaffen.
03.11.2014, 16:1005.11.2014, 15:49
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Ein bekanntes Experiment der Sozialpsychologie spielt sich wie folgt ab: Autofahrer werden in einem simulierten Tunnel auf zwei Fahrbahnen verteilt. Sie können die Spur nicht wechseln. Plötzlich entsteht aus unbekannten Gründen ein Stau. 

Nach einer Weile können die Autos auf der einen Spur wieder fahren, die anderen nicht. Die Reaktion erfolgt auf dem Fuss: Weil sie keinen Grund für die ungleiche Behandlung erkennen können, steigert sich die anfängliche Irritation der blockierten Fahrer bald in einen offenen Aufstand. 

Es gibt keine Gründe mehr dafür

Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen, reagieren mit blinder Wut, speziell dann, wenn sie keinen Grund für die Ungleichbehandlung erkennen können. Die pauschale Besteuerung für reiche Ausländer ist eine Ungerechtigkeit, und Gründe dafür gibt es keine mehr. 

Dabei war sie ursprünglich harmlos. Weil der Kanton Waadt vor rund 150 Jahren die Einkommenssteuer einführte und den paar Ausländern an den Gestaden des Lac Leman bürokratischen Ärger ersparen wollte, besteuerte er sie kurzerhand nach ihrem Lebensaufwand. 

Rund 700 Millionen Franken jährlich

Wie das Bankgeheimnis hat sich jedoch die Pauschalbesteuerung in den letzten 30 Jahren zu einem Instrument entwickelt, das alles andere als harmlos ist. Heute dient sie dazu, reiche Ausländer in die Schweiz zu locken. Punkt. Das zeigen die Zahlen: 1994 gab es in der Schweiz insgesamt 2'730 Pauschalbesteuerte, 2012 waren es 5'634. Sie liefern Gemeinden, Kantonen und dem Bund jährlich rund 700 Millionen Franken ab. 

Michael Schumachers Villa am Genfersee
Michael Schumachers Villa am GenferseeBild: Getty Images Europe

Die Pauschalbesteuerten sind auch nicht mehr bloss Rentner, die ihren Lebensabend in der Schweiz geniessen wollen. Die beiden Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher und Sebastian Vettel beispielsweise profitieren davon, dass sie ihr Einkommen nicht in der Schweiz erzielen, es aber zu einem Spottpreis versteuern können. 

Beide machten nie Geheimnis daraus, dass sie aus Steuergründen an den Genfersee, resp. in den Kanton Thurgau gezogen sind. Die Behörden sind gar bereit, die Gesetze zu beugen. Vettel wurde im Thurgau die Erlaubnis erteilt, in einer Landwirtschaftszone einen Helikopterlandeplatz bauen zu dürfen. Aus eigener Einsicht hat er schliesslich darauf verzichtet. 

Die Pseudo-Logik der Befürworter

Die Befürworter der Pauschalsteuer führen wirtschaftliche Vernunft ins Feld. Die Argumentation kann man daher mit einem Vergleich wie folgt zusammenfassen: Stellen Sie sich vor, zehn Personen gründen einen Club. Um die Kosten zu begleichen, muss jeder einen jährlichen Beitrag von 100 Franken entrichten. Jetzt gesellt sich eine elfte Person dazu, die ebenfalls gerne dem Club beitreten würde, aber bloss 50 Franken Jahresbeitrag zahlen will. 

Okay, sagen sich die anderen. Das ist zwar nicht gerecht. Weil der Neue jedoch keine neuen Kosten verursacht, helfen uns selbst seine 50 Franken, unseren Jahresbeitrag um fünf Franken zu senken. Daher stimmen wir zu.

Warum soll der reiche Banker mehr bezahlen?

Ökonomisch gesehen mag dies vernünftig sein, psychologisch nicht. Es entspricht grundsätzlich dem eingangs geschilderten sozialpsychologischen Experiment und erzeugt Zwist. Das ist mehr als blosse Theorie. 

Die Pauschalbesteuerung stösst nicht nur bei den Linken auf Widerstand, sondern auch in Kreisen der einheimischen Reichen. Warum etwa soll ein Banker an der Zürcher Goldküste mehr Steuern bezahlen als sein Nachbar, ein russischer Oligarch? 

Braucht St. Moritz unsere Unterstützung?

Der Kanton Zürich hat daher auch mit Hilfe vieler FDP-Wähler die Pauschalbesteuerung abgeschafft – und davon profitiert. Die Steuereinnahmen der weggewanderten Reichen wurden von Zuzügern, die wie normale Schweizer besteuert werden, mehr als kompensiert. 

Besucher am Pferderennen in St. Moritz
Besucher am Pferderennen in St. MoritzBild: KEYSTONE

Okay, entgegnen die Befürworter zum zweiten Mal, das mag für den reichen Kanton Zürich zutreffen, die armen Bergkantone hingegen sind auf die Pauschalsteuer angewiesen. «In St. Moritz etwa stammt ein Drittel der Steuereinnahmen der natürlichen Personen aus dieser Quelle», schreibt Felix E. Müller, Chefredaktor der «NZZ am Sonntag» mitfühlend. 

Steueroasen werden international geächtet

Darauf gibt es zwei Antworten: Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass auch reiche Ausländer die Schönheit des Engadins geniessen, aber es ist geradezu pervers, wenn sich nicht den ortsüblichen Preis dafür bezahlen müssen. Und zudem: Sollte es wegen dem Wegzug von superreichen Steuerzahlern aus dem Ausland tatsächlich zu ernsten Schwierigkeiten in den Randkantonen kommen, dann müssen wir das unter uns und nicht auf dem Buckel anderer Staaten erledigen. 

Denn wie beim Bankgeheimnis geht es auch bei der Pauschalbesteuerung längst nicht mehr nur um Moral. Die Einkommensunterschiede haben sich in allen Industriestaaten massiv verschärft. Wegen der Finanzkrise sind auch die Staatsschulden explodiert. Steueroasen sind daher rund um den Globus sehr unpopulär geworden. Ob G20, Internationaler Währungsfond oder OECD: Alle machen Druck auf Länder, die Steuerflüchtlingen Unterschlupf bieten – und sie meinen es diesmal Ernst.

Eine Frage der Ehre – und der Vernunft

Machen wir uns nichts vor: Die Pauschalbesteuerung ist heute ein Mittel, Superreiche in unser Land zu locken. Alles andere sind billige Ausreden. Haben wir es wirklich nötig, unser Land an Superreiche zu verkaufen? Kann es sein, dass ausgerechnet St. Moritz, Gstaad und Zermatt darauf angewiesen sind, Steuergeschenke zu gewähren?

Nicht nur der Stolz sollte uns gebieten, mit diesem obszönen Unsinn aufzuhören. Auch die Vernunft legt uns diesen Schritt nahe. Oder sollen sich – wie beim Bankgeheimnis – die endlosen Streitereien mit an sich befreundeten Nationen auch bei der Pauschalbesteuerung wiederholen? 

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33 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Hugo Wottaupott
03.11.2014 18:01registriert Februar 2014
Steuergerechtigkeit gibt es nicht. Sonst würde mehr Wert darauf gelegt wieviel im Portemonnaie des zu Besteuernden bleibt und weniger wieviel er abdrückt. Gerechte Steuern würden prozentual zum Einkommen zunehmen Punkt aus.
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