«Er ist der Rudelführer, ihm nach!» Kathrin Bertschy, die Haare vom Wind zerzaust, deutet lachend auf Ahmed Kut, den Geschäftsführer der GLP-Bundeshausfraktion. Und dann ist es doch sie, die der Reisegruppe mit einer energischen Handbewegung den Weg in Richtung Google-Hauptquartier weist.
Es ist der Tag der Fraktionsauflüge – und die Grünliberalen scheinen in diesem Jahr eine besondere Anziehungskraft zu besitzen. Über hundert Personen – Parteimitglieder, Journalisten, Lobbyisten – haben sich angemeldet, um zusammen mit der siebenköpfigen GLP-Bundeshausfraktion das Reich des Internetgiganten in Zürich zu besichtigen. Letztes Jahr war die Gruppe noch halb so gross.
Ob es an der Gelegenheit liegt, die berühmte Google-Rutschbahn einmal mit eigenen Augen zu sehen? Oder doch daran, dass in der Partei bald ein neues, aufregendes Zeitalter anbricht?
Nach genau zehn Jahren gibt Martin Bäumle das Parteipräsidium im August ab. Und die Suche nach dem Thronfolger des «Alleinherrschers» (eines der Lieblingslabels von Journalisten für den Mann mit dem Bürstenschnitt) ist bereits in vollem Gang. Neben Kathrin Bertschy (37) zählen Fraktionschefin Tiana Angelina Moser (38) und der Berner Unternehmer Jürg Grossen (47) zum engsten Favoritenkreis. Ambitionen haben sie alle, daraus machen sie an diesem Tag keinen Hehl.
«Klar würde das Amt jeden von uns reizen», sagt Bertschy auf dem Perron in Bern freiheraus, noch bevor die Gruppe in den Zug nach Zürich steigt. Moser, die sich in der Frage nach einer möglichen Kandidatur bisher bedeckt hielt, lässt sich während der Bahnfahrt zur Aussage hinreissen, dass es ihr durchaus «pässeln» würde, sich künftig mit den anderen Parteichefs in den Elefantenrunden zu messen. Und der Berner Oberländer Jürg Grossen erzählt beim Apéro mit leuchtenden Augen vom Wählerpotenzial der Grünliberalen abseits der urbanen Gefilde.
Offiziell will der GLP-Vorstand vor den Sommerferien einen Wahlvorschlag präsentieren – bis dahin nimmt eine Findungskommission Kandidaturen und Vorschläge entgegen. Kein Wunder, wird auch an diesem Nachmittag emsig über die Personalie diskutiert. Besonders die beiden Frauen stehen im Fokus: Es wird verglichen, gelobt, abgewogen.
Bertschy: die Inspirierende – Moser: die Souveräne. So die Essenz der Aussagen. Erstere sei emotionaler, sagen viele. Sie strotze vor Enthusiasmus und könne ihr Umfeld mitreissen. Davon zeugt auch das Grüppchen junger Menschen, das immer wieder um Bertschy herumschwirrt – Mitglieder des Think-Tanks GLP Lab, der im vergangenen August aus der Taufe gehoben wurde.
Die Ökonomin ist die Schirmherrin des Politlabors, der es sich zum Ziel gemacht hat, ein «optimistisches Narrativ» der Schweiz zu entwickeln. Eines, das es mit der nationalkonservativen Erzählung der Wilhelm-Tell-Schweiz aufnehmen kann.
Die Bernerin, die neben ihrem politischen Engagement eine eigene Firma führt, weiss: Die Zahlen und Fakten auf seiner Seite zu haben, ist im Jahr 2017 nicht genug. «Wir müssen unsere Politik auch erklären können und die Menschen emotional abholen.» Es ist wohl der grösste Unterschied zum abtretenden Bäumle: Er, der Meister der Excel-Tabellen, konnte Wahl-Allianzen schmieden wie kein Zweiter, Zahlen ausspucken wie ein Maschinengewehr. Wenn es aber darum ging, die Wähler in ihrem Alltag abzuholen, harzte es.
Das wurde nicht nur im März 2015 deutlich, als die Partei mit ihrer ersten Volksinitiative eine beispiellose Bruchlandung erlitt. Auch kam in den vergangenen Jahren kaum eine Analyse über die GLP ohne die Prädikate «kühl» oder «technokratisch» aus. «Wer sozial- oder geisteswissenschaftlich geprägt wurde, fremdelt ein wenig mit dieser in den Natur- und Ingenieurwissenschaften verwurzelten Partei», brachte Politgeograf Michael Hermann das GLP-Dilemma im Interview mit watson auf den Punkt.
Künftig dürfte es also mehr menscheln in der Partei. Auch Tiana Angelina Moser betont, mit Excel-Tabellen sei in der Politik nicht alles gewonnen. «Es muss auch darum gehen, in die Lebensrealität der Menschen einzutauchen.» Ganz abgesehen davon gehöre sie nicht zu den talentierteren Programmiererinnen in der Partei, sagt sie und lacht. Am Fraktionsausflug ist es die Zürcherin, die den Zeitplan im Auge behält, das zahlreiche Erscheinen der Gäste würdigt («wir sind offensichtlich eine Boom-Partei»), die Diskussion über Passwort-Sicherheit bei Google zugunsten des Apéros abklemmt.
«Die Tiana, die hat es im Griff», sagt mehr als ein Parteimitglied. Tough im Auftritt, aber herzlich im Umgang, hat sich die Politik- und Umweltwissenschaftlerin längst über die Parteigrenzen hinaus Respekt verschafft. Die Zügel in der Fraktion führe die Mutter dreier Kinder straff, heisst es. Sie selber sagt dazu: «Wenn wir zu siebt im Bundeshaus sind, können wir nicht nach dem Ampelsystem stimmen: drei rot, drei grün, einer gelb.»
Wiederholt wurde in den letzten Tagen darüber spekuliert, ob ein Parteipräsidium mit Mosers familiären Verpflichtungen vereinbar wäre. «Ich hoffe, Sie fragen mich heute nicht auch noch, was mein Mann beruflich macht», scherzt die 38-Jährige. Das Unverständnis, sich im Jahr 2017 mit solchen Fragen herumschlagen zu müssen, schwingt in der Stimme unüberhörbar mit.
Programmatisch gibt es zwischen den beiden Kronfavoritinnen kaum Differenzen – einzig die Schwerpunkte unterscheiden sich: Während sich Moser als versierte Europapolitikerin einen Namen machte und etwa mit einem eigenen Gegenvorschlag zur Rasa-Initiative für Aufsehen sorgte, legt sich Bertschy leidenschaftlich mit der Bauernlobby an und kämpft an vorderster Front für die Homo-Ehe.
Sollte es in der internen Ausmarchung auf einen Zweikampf zwischen den beiden hinauslaufen, wird sich der Vorstand also primär die Stilfrage stellen müssen. Wer ist wertvoller für die Partei: das Energiebündel Bertschy oder die durchsetzungsfähige Moser? Es gibt Stimmen, die sagen: Beide zusammen. Oder, noch besser: Ein Dreigespann mit Jürg Grossen, dem KMU-Vertreter vom Land.
Die Zeit des Personenkults sei in der Schweizer Politik vorbei, es müsse um Sachpolitik und um Ideen gehen, sagen mehrere Parteimitglieder an diesem Nachmittag. Darum sei es an der Zeit, die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen. Dann fallen wieder die Namen Rytz/Thorens: Bei den Grünen hat sich das System des Co-Präsidiums nicht bewährt.
Klar ist: mit dem Modell würden die Grünliberalen maximal Abstand nehmen von der Ära Bäumle, der nicht nur als «Alleinherrscher» taxiert wurde, sondern die Partei in der öffentlichen Wahrnehmung gar zur «Ein-Mann-Partei» geschrumpft haben soll. «Die Partei war er», titelte der «Tages-Anzeiger». Fast schien es, als wollten die Anwesenden diese Stimmen Lügen strafen. «Krass, wie viele wir sind», sagt eine junge Frau beinahe ungläubig, als sie beim Apéro das zweite Bier öffnet.
Ausflug unserer Bundeshausfraktion nach Zürich mit vielen Parteimitgliedern und Gästen. U.a. mit einem Besuch bei @Google. pic.twitter.com/dCF0N3LKGh
— Grünliberale Schweiz (@grunliberale) 7. Juni 2017