Die Schweiz, ein einig Volk von Brüdern? So oder ähnlich heisst es im Rütlischwur. Abgesehen davon, dass die Schwestern vergessen gingen und der Text eine Erfindung von Friedrich Schiller ist: Einig waren sich die Eidgenossen kaum einmal. Immer wieder war das fragile Bündnis einer Zerreissprobe ausgesetzt, während der Reformation oder im Ersten Weltkrieg, als zwischen Deutschschweiz und Romandie teilweise blanker Hass herrschte.
Die tiefe Kluft zwischen den Landesteilen – meist mit dem beschönigenden Begriff «Röstigraben» umschrieben – zeigte sich erneut nach der EWR-Abstimmung 1992. Insgesamt aber hat der enorme Zuwachs an Wohlstand seit dem Zweiten Weltkrieg die Risse in der «Willensnation» Schweiz recht gut zugepflastert.
Heute kann sie niemand mehr übersehen, der sie sehen will. Auslöser waren der 9. Februar 2014 und das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative der SVP. Blickt man zur Jahreswende darauf zurück, erkennt man in diesem Datum eine Zäsur, die einmal als epochal eingestuft werden dürfte. Denn seither ist nichts mehr, wie es vorher war.
Ein gespaltenes Land ist die Schweiz schon lange, zumindest in Öffnungs- und Migrationsfragen. Volksabstimmungen zu diesen Themen gingen in der Regel relativ knapp aus. Grosse Ausnahme waren die Bilateralen I, die im Jahr 2000 mit mehr als 67 Prozent Ja angenommen wurden. Nach Jahren der wirtschaftlichen Stagnation war die Schweiz reif für eine Öffnung gegenüber Europa.
Dies zeigt eine Erhebung des Politgeografen Michael Hermann für den «Tages-Anzeiger». Obwohl die Städte am stärksten von den Folgen der starken Zuwanderung betroffen sind, stimmen sie immer öffnungsfreundlicher. Anders die Agglomerationen: Lange «marschierten» sie im Gleichschritt mit den Städten, doch seit 2000 öffnet sich die Schere.
Die Schweiz driftet auseinander.
«Die Menschen in den Agglomerationen sind in den vergangenen zwanzig Jahren konservativer geworden und richten sich heute vornehmlich an der Landbevölkerung aus», sagte Michael Hermann dem «Tages-Anzeiger». Ein Hauptgrund sei die Rückwanderung in die Städte durch gut ausgebildete «Linksliberale der kreativen Klasse».
Zusammen mit der Zuwanderung aus der EU führte dies zu einer eigentlichen Umschichtung: Der Wohnraum in den Städten wurde knapper und teurer, Menschen mit geringerem Einkommen wurden in die Agglo verdrängt. Dadurch wurden die Vorstädte konservativer und öffnungskritischer, während in den Kernstädten das linksliberale Milieu dominiert.
Dieses schaute lange mit einer wohlwollenden Überheblichkeit auf die «Landeier» und «Agglos» herunter. Der 9. Februar 2014 hat auch in dieser Hinsicht zu einem Bruch geführt. Es begann mit dem provokativen Zehn-Punkte-Programm von SP-Präsident Christian Levrat, mit dem er die Befürworter der SVP-Initiative kollektiv «bestrafen» wollte.
Zur Eskalation kam es im Vorfeld der Ecopop-Abstimmung vom 30. November. Als sich in ersten Umfragen ein mögliches Ja abzeichnete, wurde die Tonalität aus dem urbanen Milieu schrill bis hysterisch. In den sozialen Medien wurden die Initianten teilweise übel beschimpft. Auch Medienvertreter verloren die Contenance. «Lifestyle-Faschismus» lautete ein besonders übler Vorwurf. Teilweise herrschte eine Mobbing-Atmosphäre wie auf dem Pausenplatz, wo die Rowdys auf die Sonderlinge losgehen. Ecopop sollte verhindert werden, um jeden Preis.
Es gelang, die Initiative wurde klar abgelehnt. Doch die Berichterstattung war kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Schweizer Journalismus. Und Besserung ist nicht in Sicht, der Diskurs wird heftig bleiben. Politgeograf Michael Hermann bekannte sich offen dazu: «Ich habe Abstand vom ‹kühlen Denken› genommen, dem ich mich einst verschrieben hatte.» Hauptfeind bleibt die SVP. Sie wird nicht länger als nationalkonservatives «Korrektiv» hingenommen, sondern als Vertreterin eines «neuen Chauvinismus» oder als «Radikalinski-Partei» bekämpft.
Dabei gi
b t es genug andere Gräben, die das Land beschäftigen müssten, etwa jenen zwischen Bergbewohnern und Unterländern. Die einen nehmen zwar gerne das Geld der anderen, reagieren aber betupft, wenn man ihnen den Bau von Zweitwohnungen oder das Abknallen von Bären, Luchsen und Wölfen verbieten will. Das Tessin fühlt sich in jeder Beziehung unverstanden, und auch der Röstigraben ist nicht zugeschüttet, wie die Kontroverse um den Frühfranzösisch-Unterricht in der Deutschschweiz zeigt.Es sind schlechte Perspektiven für die «Willensnation» Schweiz, die nicht durch eine gemeinsame Kultur, Sprache oder Konfession zusammengehalten wird, sondern einzig durch den Willen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie ist zu einem gewissen Konsens verdammt.
Ein radikaler Bruch ist mangels Alternativen nicht in Sicht. Doch die schleichende Entfremdung wird sich fortsetzen. Die «Urbanschweiz» wittert durch das klare Ecopop-Nein und deutlichen Umfrageergebnissen pro Bilaterale Morgenluft, sie will den 9. Februar möglichst ungeschehen machen.
Dies könnte ins Auge gehen, vor allem wenn weiterhin jährlich Zehntausende zuwandern und der Verdrängungsprozess sich noch verschärft. Dann wird sich die Schere zwischen Stadt und Agglo/Land weiter öffnen und der nächste Hammer ist programmiert. Vielleicht schon 2016, wenn über die Zukunft des bilateralen Weges abgestimmt wird.
Bereits wird die einst staatstragende FDP als links bezeichnet und ein Mythos von Morgarten und Marignano als Richtschnur für die Zukunft propagiert. Was kommt noch auf uns zu, wenn es uns nicht mehr so supergut geht wie heute?!
Sie haben genau das beschrieben, was mich schon
lange beschäftigt hat. Wünsche ein erfolgreiches 2015 !