Die Studie trägt einen harmlosen Titel: «Sie wollen beides.» Faktisch aber besagt sie, dass bei den Lebensentwürfen in der Schweiz eine Diskrepanz existiert zwischen Wunsch und Wirklichkeit. In vielen Bereichen herrscht eine Fünfer-und-Weggli-Mentalität. Erarbeitet wurde die Studie von der Forschungsstelle Sotomo des Politgeografen Michael Hermann im Auftrag der Krankenkasse KPT.
Ein erster Befund überrascht wenig: Bei den Schweizerinnen und Schweizern stehen Freiheit und Sicherheit hoch im Kurs. Die Freiheit geniesst sogar etwas mehr Wertschätzung (92 Prozent der Befragten finden sie wichtig oder sehr wichtig) als die Sicherheit (87 Prozent). Wenn sie bedroht ist, etwa durch Terrorismus, sind jedoch viele bereit, Einschränkungen der persönlichen Freiheit hinzunehmen. Das zeigt etwa die Studie «Sicherheit 2016» der ETH Zürich.
Eine mögliche Erklärung bietet die Sotomo-Erhebung. Während politisch links situierte Menschen die Freiheit eher als ideelles Konzept verstehen, steht bei den Rechten die wirtschaftliche Freiheit im Vordergrund. Die Studie enthält zudem weitere interessante Befunde:
Der Durchschnittsschweizer lebt in einer Mietwohnung in der Agglomeration. Dies entspricht jedoch bei weitem nicht den Wunschvorstellungen. 64 Prozent würden am liebsten auf dem Land wohnen, in möglichst intakter Natur. Es folgen die Kleinstadt und die Agglo, am unbeliebtesten sind Grossstädte. Nur 26 Prozent wollen dort leben. Die bevorzugte Wohnform ist das Einfamilienhaus. 55 Prozent sehnen sich danach. Kein anderer Wohnungstyp erreicht annähernd diesen Wert.
Gleichzeitig will man möglichst nahe am Arbeitsort wohnen. Der Wunsch nach einem Eigenheim in ländlicher und trotzdem zentrumsnaher Idylle hat negative Auswirkungen. «Wer nicht allzu weit abgelegen und doch im Grünen leben will, fördert die Zersiedelung und wirkt damit letztlich dem Anspruch nach einer schönen Landschaft entgegen», heisst es in der Studie. Die Folge: Viele Dörfer sind durch den Hüslibau in der Agglomeration aufgegangen.
Die meisten jungen Männer und Frauen in der Schweiz möchten Kinder. Die Familie geniesst für beide Geschlechter einen höheren Stellenwert als die Karriere. So weit die Wunschvorstellung. Die Realität zeigt ein anderes Bild. Faktisch sind es die Frauen, die ihren beruflichen Erfolg der Familien unterordnen. 20 Prozent aller Mütter arbeiten Teilzeit. Ganz anders die Väter: 87 Prozent haben einen Fulltime-Job. Bemerkenswert: Bei den kinderlosen Männern sind es 79 Prozent.
Trotzdem scheinen die Väter mit ihrer Situation ganz zufrieden zu sein. Nur 18 Prozent halten Teilzeitarbeit und flexible Arbeitszeiten für wichtig. Das Fazit der Studie: Eigentlich wollen die Männer beides. «Sie wollen mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen, dabei jedoch ihre beruflichen Perspektiven nicht einschränken.» In der Praxis hat deshalb in der Regel die Karriere Vorrang.
Besonders schön zeigt sich das Fünfer-und-Weggli-Denken in einer Beziehung. Zwei Drittel der Befragten verlangen von ihrem Partner absolute Treue. Selber aber nehmen sie es damit nicht so genau: Nur 47 Prozent wollen sich daran halten. Gross ist die Diskrepanz insbesondere, wenn es um eine Affäre geht. Nur vier Prozent tolerieren sie beim Partner, aber 24 Prozent sind selber zu einen Seitensprung bereit. Immerhin: Je älter die Befragten, umso treuer sind sie.
Hier wird die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit besonders problematisch. 59 Prozent bezeichnen Umweltbewusstsein und ökologische Nachhaltigkeit als wichtig oder sehr wichtig. In der Realität beschränkt sich dieses Denken häufig auf den Kauf von Bio-Produkten. Umweltbewusste wohnen gleich häufig im Einfamilienhaus wie «Indifferente» (30 Prozent) und haben ebenso oft einen Arbeitsweg von mehr als zehn Kilometer (45 Prozent). Beides ist nicht nachhaltig.
Auf den Grosseinkauf im Ausland – natürlich im eigenen Auto – wollen die Umweltbewussten ebenso wenig verzichten. Sehr deutlich zeigt sich der Widerspruch zwischen Anspruch und Realität bei der Fliegerei, die als besonders umweltschädlich bekannt ist. Ökologisch «Sensible» fliegen kaum weniger häufig als jene, die sich wenig um die Umwelt scheren (40 gegenüber 43 Prozent). Die Ferien in Thailand oder das Weekend-Shopping in London lässt man sich nicht nehmen.
Das Fazit der Studie: Ökologische Ideale wirken sich kaum auf das Verhalten aus, «wenn sie mit Verzicht und Einschränkungen verbunden sind». Sind wir also «ein Volk von Heuchlern», wie der «Blick» gefolgert hat? Ja, aber wir sind nicht die einzigen. Das zeigt das diesjährige Jugendbarometer der Credit Suisse sehr anschaulich.
Befragt wurden Jugendliche in der Schweiz, in Brasilien, Singapur und den USA. Das Ergebnis deckt sich mit der Sotomo-Studie: Die jungen Leute wollen alles: Karriere machen, aber gleichzeitig eine ausgewogene Work-Life-Balance pflegen, selbstständig sein und bei einer internationalen Firma arbeiten, weniger sparen, aber auch ein Haus kaufen.
Das Fünfer-und-Weggli-Denken scheint Teil der menschlichen Natur zu sein. Problematisch wird es, wenn die Diskrepanz zu deutlich wird. Die starke Zuwanderung der letzten Jahre in der Schweiz wirkt sich auf die knappe Ressource Boden aus. Die Wohnkosten steigen, das begehrte Einfamilienhaus wird für Angehörige des Mittelstands zunehmend unerschwinglich. Auch für die berufliche Karriere werden die Zuwanderer als Konkurrenz empfunden.
Solche Befindlichkeiten trugen zur Annahme der Masseneinwanderungsinitiative im Februar 2014 bei. Der Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach intakter Natur und der faktischen Zersiedelung äusserte sich wiederum in der Annahme der Zweitwohnungsinitiative, des neuen Raumplanungsgesetzes oder der Kulturlandinitiative im Kanton Zürich. Wenn man jedoch selber auf das Häuschen im Grünen verzichten soll, ist es vorbei mit diesen Prinzipien.
«Einmal mehr zeigt sich, dass viele Schweizer und Schweizerinnen zwar beides wollen, am Schluss jedoch häufig auf das eine oder andere verzichten, weil beides nicht gleich leicht zu haben ist», lautet der Schlusssatz der Studie von Michael Hermann. Vieles wird in Zukunft davon abhängen, wie freiwillig wir zu diesem Verzicht bereit sind.
#Lebenszufriedenheit im internationalen Vergleich: Die Schweiz führt das Ranking an, gefolgt von nordischen Ländern. https://t.co/UIRNTDGc8v pic.twitter.com/cmPZJb3GVd
— OECD Statistik (@OECDStatistik) October 12, 2016
Insgesamt aber jammern wir in der Schweiz auf sehr hohem Niveau. Dies zeigt eine aktuelle Statistik der OECD: In keinem Land sind die Menschen mit ihrem Leben zufriedener.
Auch einige andere Punkte lassen mich den Kopf schütteln.
Auf der anderen Seite fällt mir keine Möglichkeit ein, ohne eine arbeitende Gesellschaft eine stabile und für alle gleiche Lage zu bewerkstelligen. Alle Varianten erfordern ein massives Umdenken der gesamten Weltbevölkerung, was leider Gottes nicht mehr und nie zu bewerkstelligen ist. Es wird immer machthungrige Menschen geben, mit ihnen ihre Anhänger.
Hat jemand eine Lösung?
PS: Denkt auch an die Überpopulation des Planeten und an den Verursacher einer zugrunde gehenden Natur..