Wo bitte geht es zur EU?Bild: KEYSTONE
Die Folgen des 9. Februar 2014
Seit dem Ja zur SVP-Zuwanderungsinitiative vor einem Jahr herrscht Konfusion: Wie kann man die Bilateralen retten und die Initiative umsetzen? Es gibt viele Ideen, doch nur ein realistisches Szenario.
08.02.2015, 08:2009.02.2015, 12:45
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In Brüssel haben sie diese Woche bestimmt herzlich über die Schweiz gelacht. Einmal weil der verunglückte Kuss von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf die Wange von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga unser Land mehr bewegte als das hochgradig ernüchternde Ergebnis ihrer Gespräche am Montag: Die EU kommt uns in der Frage der Personenfreizügigkeit keinen Millimeter entgegen. Sie hat nicht einmal offiziellen Verhandlungen zugestimmt.
Den nächsten Heiterkeitserfolg produzierte Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf am Tag danach. Bei einem Auftritt in Singapur erklärte sie, zur Klärung des Verhältnisses zwischen der Schweiz und der EU sei eine neue Volksabstimmung «in ein paar Monaten» notwendig. Eilig fügte sie an, sie äussere ihre persönliche Meinung und nicht die des Gesamtbundesrats. Doch der Schaden war angerichtet, die Schweizer Medien begannen zu hyperventilieren.
Kussfreie Realität: Ernste Mienen bei Sommaruga und Jean-Claude Juncker.Bild: Virginia Mayo/AP/KEYSTONE
Was auch immer Widmer-Schlumpf geritten hat, sie hat der Schweiz einen Bärendienst erwiesen. In der heiklen und für die Zukunft des Landes wichtigen Frage, wie wir künftig mit der Europäischen Union kutschieren wollen, müsste die Landesregierung Geschlossenheit markieren. Stattdessen produziert sie Kakophonie.
Einmal mehr fragt man sich, ob unser Gremium der «sieben Leichtmatrosen» (Blick) auf dem internationalen Parkett nicht heillos überfordert ist.
Entscheidend ist nicht, was wir von der EU wollen, sondern was sie von uns will.
Seit dem knappen Ja zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP am 9. Februar 2014 befindet sich die Schweizer Politik in einem Zustand der Desorientierung. Auf einmal standen die bilateralen Verträge mit der EU zur Disposition. Auf einmal mussten die selbstgefälligen Eliten zur Kenntnis nehmen, dass sich im Volk ein grosser Unmut über die starke Zuwanderung und ihre Folgen breit gemacht hat.
Rapper Greis gehört zum Komitee, das den Volksentscheid vom 9. Februar 2014 rückgängig machen will.Bild: KEYSTONE
Nun zerbricht man sich die Köpfe, wie es weitergehen soll: Wie kann man die Initiative umsetzen und die Bilateralen retten? An Vorschlägen fehlt es nicht. CVP und BDP wollen die Bilateralen in der Verfassung verankern. Die Personenfreizügigkeit soll mit einer Schutzklausel ergänzt werden. Ein Komitee «Raus aus der Sackgasse» hat eine Initiative lanciert, um den 9. Februar 2014 rückgängig zu machen. Wirklich überzeugend wirkt nichts davon.
Der Bundesrat wiederum müsste endlich seine Vorlage zur Umsetzung der SVP-Initiative vorstellen. Versprochen hatte er sie für den Dezember. Dann wurde es Januar. Jetzt kommt sie vielleicht am nächsten Mittwoch, vielleicht später. Vielleicht bringt sie der Osterhase.
Höchste Zeit, dass wir uns von einer Illusion verabschieden. Über unser Verhältnis zur EU wird nicht in Bern entschieden, sondern in Brüssel. Die Zeiten, in denen uns die EU Extrawürste serviert hat in der Erwartung, wir würden ihr demnächst beitreten, sind aus und vorbei. Schutzklauseln und ähnliches können wir uns an den Hut stecken.
Entscheidend ist nicht, was wir von der EU wollen, sondern was sie von uns will.
Der Status Quo ist für die Schweiz keine Option, denn die EU entwickelt ihren Binnenmarkt stetig weiter. Bestes Beispiel ist die Integration des Elektrizitätsmarktes.
Mit anderen Worten: Es führt kein Weg vorbei am institutionellen Rahmenabkommen, über das derzeit verhandelt wird. Die EU will die Schweiz damit stärker einbinden und sie unter anderem der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unterstellen. Für die Schweiz sind das dicke Kröten. Aussenminister Didier Burkhalter hat schon mit einem Scheitern kokettiert.
Doch der Status Quo ist für die Schweiz keine Option, denn die EU entwickelt ihren Binnenmarkt stetig weiter. Bestes Beispiel ist die Integration des Elektrizitätsmarktes. Die Schweiz hätte gerne Anschluss über ein Stromabkommen. Die EU öffnet zwar die Türe für eine Übergangslösung, wie Energieministerin Doris Leuthard letzte Woche in Brüssel erfahren konnte. Doch sie stellt eigentlich unerfüllbare Bedingungen. Und ohne Rahmenvertrag fliegt die Schweiz wieder raus.
Christoph Blocher will gegen den Rahmenvertrag kämpfen, wie einst gegen den EWR.Bild: DENIS BALIBOUSE/REUTERS
Wie also könnte ein realistisches Szenario aussehen? Bis zu den Wahlen im Oktober wird sich wenig bewegen. Danach aber könnte es schnell gehen und das Rahmenabkommen noch vor Ende Jahr unterzeichnet werden. Die Volksabstimmung könnte am 27. November 2016 stattfinden, kurz vor Ablauf der dreijährigen Umsetzungsfrist für die Zuwanderungsinitiative. Gleichzeitig könnte auch über das Umsetzungsgesetz abgestimmt werden, sofern es nicht bereits zuvor im Parlament versenkt wird, etwa durch eine «unheilige» Links-Rechts-Allianz.
Es dürfte zu einem epischen Abstimmungskampf kommen wie 1992 beim EWR-Vertrag.
Sagt das Volk Ja, wären nicht nur die Bilateralen gerettet. Der Bundesrat könnte danach den Verfassungsartikel zur Zuwanderung mit einer Verordnung umsetzen und die EU-Bürger von Kontingenten und Inländervorrang ausnehmen, mit Verweis auf den Volksentscheid. Möglich wäre dies, da im SVP-Text keine Rede ist von EU und Personenfreizügigkeit und die Schweiz nicht über ein Verfassungsgericht verfügt. Der 9.2.2014 wäre faktisch aufgehoben.
Eine solche Strategie ist hoch riskant. Bei einem Nein ist der Totalschaden angerichtet. Immerhin haben Umfragen gezeigt, dass eine Mehrheit der Stimmberechtigten die bilateralen Verträge einer Kontingentierung der Zuwanderung vorziehen würde. Aber bis Ende 2016 kann viel passieren. SVP-Guru Christoph Blocher stilisiert den Kampf gegen das Rahmenabkommen schon heute zur Schicksalsfrage für die Schweiz hoch. Es dürfte zu einem epischen Abstimmungskampf kommen wie 1992 beim EWR-Vertrag.
Und nun ist mit der Aufhebung des Euro-Mindestkurses durch die Nationalbank ein weiterer Unsicherheitsfaktor hinzugekommen. Die Signale aus der Wirtschaft sind wenig ermutigend. Im besten Fall schwächt sich die Zuwanderung ab, gleichzeitig kommt es in der Eurozone zu einem Aufschwung, wodurch sich der Schaden in Grenzen hält. Im schlechtesten Fall nimmt die Arbeitslosigkeit stark zu. Die Wut über die Zuwanderung dürfte wieder hochkochen.
Was also macht der Bundesrat? Setzt er auf dieses Szenario, mit all seinen Risiken, das aber eine tragfähige Lösung bringen würde? Oder versucht er sich irgendwie durchzuwursteln, gegenüber der EU wie auch innenpolitisch mit einer halbgaren Umsetzungsvorlage?
Ein solches Vorgehen wäre in keinster Weise nachhaltig. Zeit, dass in Bern jemand den Kompass in die Hand nimmt.
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