Irgendwann haben wir alle aufgehört an das Christkind zu glauben. Das ist nicht nur schade, sondern vor allem falsch. Denn es existiert und es hat sogar einen Schweizer Pass.
Hoch über dem Bodensee, in einem Dörfchen, das an einem Hang klebt, wohnt es. Wienacht heisst der Ort.
Etwas oberhalb des Dorfkerns liegt die ehemalige Poststelle und über dieser sitzt es – wie jeden Tag im Dezember – an seinem Tisch und liest. Es liest Briefe, die es immer von Mitte November bis kurz vor Weihnachten aus aller Welt erhält. Alle sind sie mit «An das Christkind, 9405 Wienacht» adressiert.
Spricht es, klingt es äusserst irdisch. Und irdisch ist auch der ganze Rest. Willi Würzer heisst das Christkind mit bürgerlichem Namen. Er trägt oft und gerne karierte Hemden und braucht eine Brille zum lesen. Auch heute hat Würzer einen ganzen Stapel aus dem Briefkasten geholt. Er liest jeden einzelnen der Briefe, sortiert sie, beantwortet sie und bewahrt sie alle auf. «Mittlerweile dürften es etwa 5000 sein», sagt Würzer. Immer wieder huscht ein Lächeln über seine Lippen oder er nickt zufrieden:
Gegen 200 solcher Schreiben, «Christchindli-Post», wie er es nennt, bekommt Würzer seit über 30 Jahren. An diesem Tag sind Briefe dabei aus Taiwan, aus Hongkong und aus Deutschland. Die meisten aber kommen aus der Schweiz. «Mit der Zeit und durch verschiedene Medienberichte sind wir weit über die Grenzen des Appenzellerlandes berühmt geworden.»
Immer mehr Briefe holt Würzer aus dem Schrank. Bunt sind sie. Und die meisten kommen von Kindern. Sie schneiden aus Katalogen ihre Wünsche aus und kleben diese auf Papier. Viele zeichnen, einige schreiben selber, bei anderen ist der Verfasser das Mami oder der Papi.
Würzer sagt, die schönen Zeilen der Kinder gäben ihm viel. Doch nicht immer seien die Wunschzettel fröhlich. «Briefe von Kindern, deren Eltern krank sind, gehen mir am nächsten.»
1967 hat Würzer die Leitung der Poststelle in Wienacht-Tobel, wie die Gemeinde genau heisst, übernommen. 2003 wurde sie geschlossen, Würzer kurz zuvor pensioniert. Trotzdem landet die Weihnachtspost weiter in seinem Postfach und Würzer führte einfach weiter, was er immer tat vor Weihnachten: Er liest und beantwortet «Christchindli-Briefe».
Die Briefe haben sich über all die Jahre laut Würzer wenig verändert. «Noch immer sind fast alle von Hand verfasst.» Die Wünsche hingegen sind nicht mehr dieselben. Waren es früher hauptsächlich Holzspielsachen, wünschen sich die Kinder heute fast nur noch «Technik» – iPads, iPhones, ganze Computer.
Ihre Wünsche erfüllen kann Würzer nicht. Aber er könne dazu beitragen, dass die Kinder «an so etwas Wunderbares wie das Christkind etwas länger glauben». Alle, die einen Absender auf den Wunschzettel schreiben, bekommen eine Antwort von Würzer. Zusammen mit einem befreundeten Pfarrer schreibt er jedes Jahr eine Geschichte mit weihnächtlichem Hintergrund. Zum Beispiel über Tiere im Wald. Diese druckt er aus, versieht sie mit einem persönlichen Gruss vom Christkind und verschickt sie in alle Welt.
Würzer schrieb tausende Male im Namen des Christkindes. Wie stellt er selber sich das Christkind vor? Der pensionierte Posthalter überlegt lange: «Früher habe ich daran geglaubt», sagt er schliesslich. Er habe, wie die Kinder heute, Kataloge ausgeschnitten, seinen Wunschzettel am Abend auf das Fenstersims gelegt und gehofft, dass das Christchindli diesen hole und die Wünsche darauf in Erfüllung gingen.
Ganz ohne Wünsche ist er auch heute noch nicht. Dass er jeden Tag aufstehen könne, das wünsche er sich. Und Gesundheit sowie, dass er weiter gewissen Menschen helfen könne. «Materielle Wünsche hat man im Alter kaum noch.»
Würzer legt einen soeben gelesenen Brief auf den Stapel vor sich. Er blickt aus dem Fenster, scheint einen Punkt am Horizont zu fixieren. Von seiner Stube aus sieht er auf den Bodensee bis ans Deutsche Ufer. Es ist still. In der 400-Seelen-Gemeinde ist es ruhiger geworden in den letzten Jahren. Auch deshalb ist Würzers Arbeit wichtig für den Ort. Das Geld für die Marken der «Christchindli-Antworten» übernimmt der Verkehrsverein. Damit Wienacht nicht vergessen geht, damit das Christkind für immer am Leben bleibt.