Kurz bevor Joy 17 Jahre alt wurde, holte ihre Tante sie von Kamerun nach Zürich. Diese versprach ihr eine Ausbildung in der Schweiz. Es kam anders: Kaum hier angekommen, wurde Joy angewiesen, Asyl zu beantragen, und auf den Strassenstrich geschickt. Sieben Tage die Woche, die Einnahmen knöpfte ihr die Tante ab. Joys Geschichte ist kein Einzelfall. Bei der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) ist man alarmiert. «Fälle von Menschenhandel im Asylbereich nehmen seit einiger Zeit zu», sagt Rebecca Angelini von der FIZ. Opfer sind vor allem junge Frauen aus Nigeria, Äthiopien, Somalia und dem Kongo.
Unter falschen Versprechen locken Verwandte, Bekannte oder vermeintliche Liebhaber die Frauen nach Europa und zwingen sie, meist im Sexgewerbe, Geld zu verdienen. Einige reisen direkt in die Schweiz ein, andere über ein Dublin-Land. Dabei nutzen die Menschenhändler das oftmals langwierige und aussichtslose Asylverfahren, um die Frauen währenddessen auszubeuten. Es kommt auch vor, dass Menschenhändler erst in der Schweiz Asylsucherinnen täuschen und zur Kooperation zwingen. Wie viele Opfer von Menschenhändlern es im Asylwesen gibt, ist nicht bekannt.
2016 hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) 73 Fälle verzeichnet. Das sind mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Die Dunkelziffer dürfte allerdings hoch sein. «Nur die wenigsten Opfer werden erkannt», sagt Angelini. Dies liege daran, dass bei der Befragung die Zeit knapp sei. «Betroffene Frauen sind traumatisiert, manche können kaum sprechen. Es braucht daher Zeit, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, um die Sachlage zu klären.»
Rund 80 Prozent der Asylsuchenden gelangen über Schlepper in die Schweiz. Das bedeutet nicht, dass sie alle Opfer von Menschenhändlern sind. Seit das Botschaftsasyl abgeschafft worden ist, bleibt den Flüchtenden meist keine andere Wahl, als illegal zu migrieren und sich zumindest für einen Teil des Weges Schmugglern anzuvertrauen. Sie geraten in eine Abhängigkeit und verschulden sich.
Für kriminelle Banden sind insbesondere junge Migrantinnen attraktiv. Hohe Gewinne im Sexgewerbe und vergleichsweise niedrige Risiken für die Täter führen dazu, dass in Europa jährlich mehrere zehntausend Menschen Opfer dieses Verbrechens werden. Und das Problem wird sich verschärfen. Ein neuer Bericht der europäischen Polizeibehörde Europol analysiert: «Die derzeitige Migrationskrise in Nordafrika und im Nahen Osten wird einen grossen Einfluss auf den Menschenhandel haben.» Bereits über 30'000 Menschenhändler sind in Europa aktiv und machen mehr Geld als mit illegalen Drogen und Waffen.
Beim Bundesamt für Polizei ist man sich dessen bewusst. «Die grösste Herausforderung ist, Opfer von Menschenhandel als solche zu identifizieren», sagt Fedpol-Sprecherin Lulzana Musliu. Da sie mit Gewalt oder Drohungen gegen sich selbst und ihre Familie konfrontiert sind, wagen sie nicht, gegen ihre Peiniger auszusagen. Das Staatssekretariat für Migration ist deshalb daran, die Mitarbeiter zu schulen und zu sensibilisieren. «Wir sind bestrebt, die Bedingungen für Opfer laufend zu verbessern», sagt SEM-Sprecher Martin Reichlin. So würden Betroffene auch einen Flyer mit Kontaktinformationen zu kantonalen Opferberatungsstellen erhalten.
«Dies allein reicht aber nicht», sagt Rebecca Angelini von der FIZ. «Spezialisierte Opferschutzstellen werden bei Verdacht auf Menschenhandel in der Regel nicht einbezogen.» Nur die wenigsten Frauen würden daher die nötige medizinische und psychosoziale Betreuung erhalten. «Es fehlt schlicht ein Szenario, wie mutmassliche Opfer von Menschenhandel im Asylverfahren geschützt werden können.» So komme es vor, dass Täter und Opfer in derselben Unterkunft untergebracht würden.
Nicolas Le Coz, ehemaliger Präsident der Menschenhandels-Expertengruppe Greta des Europarates, hat einen Bericht über die Situation in der Schweiz mitverfasst. Er sagt: «Im Asylverfahren sollte bei jeder Person überprüft werden, ob sie ein Menschenhandels-Opfer ist.» Besonders bei sogenannten Dublin-Fällen bestehe Nachholbedarf. «Die Schweiz muss sicherstellen, dass kein Opfer in einen Staat zurückkehren muss, in welchem es der Gefahr von Vergeltungsmassnahmen oder erneutem Menschenhandel ausgesetzt ist.» Die Thematik wird am Montag an einer Konferenz in Bern diskutiert. (aargauerzeitung.ch)