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Überforderte Laien, schnellere Ambulanzen – braucht es den Nothelferkurs noch?

Bei Herzstillstand geht es um Minuten. Da kommt die schnellste Ambulanz meist zu spät. Laien müssen handeln.
Bei Herzstillstand geht es um Minuten. Da kommt die schnellste Ambulanz meist zu spät. Laien müssen handeln.Shutterstock

Überforderte Laien, schnellere Ambulanzen – wie weiter mit dem Nothelferkurs?

Ohne Nothilfekurs würde die Hürde zu helfen höher. Aber eigentlich müsste man es machen wie die Tessiner.
06.09.2017, 07:3806.09.2017, 08:19
Sabine Kuster und Nicola Imfeld / Nordwestschweiz
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Ein Rettungsdienstleiter sagt es direkt: «Wenn der Laie nichts macht, stirbt der Patient.» Markus Brun arbeitet bei der Ambulanz Käch im Kanton Solothurn. Er sagt es so dramatisch, wie es ist: Zwar sind die Ambulanzen heute schweizweit in durchschnittlich zehn bis fünfzehn Minuten vor Ort, aber bei Herzstillstand geht es vorher um Leben und Tod.

Jetzt auf

Trotzdem forderten die kantonalen Strassenverkehrsämter gestern auf Radio SRF, der Nothelferkurs solle nicht mehr Teil der Fahrprüfung sein. Dies, um die Ausbildung zu entlasten und weil das Kurs-Obligatorium nicht mehr zeitgemäss sei, da sich die Zahl der Verkehrstoten massiv reduziert habe. 1990 starben 954 Menschen, heute ist es mit 208 noch knapp ein Fünftel.

«Das Risiko ist heute viel höher, einen medizinischen Zwischenfall im Sport oder im Privatleben zu haben als auf der Strasse», sagte Sven Britschgi, Mediensprecher des Verbands der kantonalen Strassenverkehrsämter. Und wenn auf der Strasse etwas passiere, seien die Rettungskräfte dank Handy viel schneller auf der Unfallstelle als früher. Aber eben immer noch nicht schnell genug, wenn es um Herzstillstand geht.

Andere würden den Kurs deshalb am liebsten ausbauen und eine Wiederholungspflicht einführen. Dies forderte der Direktor des Interverbands für Rettungswesen IVR-IAS, Martin Gappisch, Ende August in der Pendler-Zeitung «20 Minuten». Auslöser war eine Umfrage des Touring Clubs Schweiz (TCS). Demnach sind die meisten Personen in einer Unfallsituation überfordert. Nur sieben Prozent konnten spontan alle vier Grundregeln nennen, die bei einem Unfall gelten. Der TCS führt das ernüchternde Ergebnis darauf zurück, dass die meisten Personen den Nothelferkurs nicht auffrischen.

ABCD-Schema
Airway Durch einen Blick in den Mund überprüft der Helfer, ob die Atemwege des Patienten frei sind. Wenn nicht: Atemwege freilegen, indem man das Kinn anhebt.

Breathing Die Eigenatmung des Patienten fünf bis zehn Sekunden prüfen. Wenn die Atmung weder sichtbar noch spürbar ist: Zwei Beatmungsstösse mittels Mund-zu-Mund-Beatmung.

Circulation Prüfen, ob das Herz schlägt und somit die Zirkulation des Blutes funktioniert. Wenn nicht: 30 Thoraxkompressionen an der Brust durchführen. Beatmung und Herzdruckmassage erfolgen dann im steten Wechsel.

Defibrillation Wenn ein automatischer externer Defibrillator (AED) vorhanden ist, kann das Herz durch einen elektrischen Impuls wieder in einen normalen Rhythmus gebracht werden.

Immerhin: Erinnerungseffekt

Aber selbst wenn es beim einzigen Kurs in jungen Jahren bleibt, sei er wichtig, findet Remo Osterwalder, Verantwortlicher Rettungswesen beim Verband der Schweizer Ärzte FMH: «Er nimmt die Angst zu reagieren.» Und das ist laut den Rettungsdiensten das Wichtigste. Was genau gemacht werden muss, sagen die Notfalldienste den Helfern meist per Telefon und leiten sie Schritt für Schritt an, bis die Ambulanz eintrifft. «Hat jemand den Kurs gemacht, gibt ihm das einen Erinnerungseffekt und Sicherheit», sagt Urs Eberle von Schutz & Rettung Zürich.

Die Rettungsdienste wollen um jeden Preis verhindern, dass jemand aus Furcht gar nichts tut. Juristisch sind die Helfer auf der sicheren Seite, wenn sie handeln

Erstaunlich ist: Die Jungen reagieren laut Osterwalder tendenziell schneller. «Ihnen kommt die Unbeschwertheit zugute», sagt er. Sonst aber ist er mit der aktuellen Situation nicht zufrieden: Die Ambulanz-Protokolle bei Herzstillständen zeigten, dass die Erste-Hilfe-Intervention oft sehr dürftig stattfinde.

Anders die Rückmeldungen der Rettungsdienste: «In unserem Einsatzgebiet machen wir durchweg positive Erfahrungen mit der Bereitschaft der Bevölkerung, Nothilfe zu leisten», sagt Kai-Simon Roloff, Leiter Rettungsdienst Paramedic. Seitens der Solothurner Spitäler heisst es: «Meistens werden die Patienten betreut, sei es nur durch guten Zuspruch. Angst, etwas falsch machen zu können, wird jedoch oft geäussert.» Schutz & Rettung Zürich belohnt die Mutigen aktiv und schickt jenen, die gewagt haben, eine Herzmassage zu machen, einen Dankesbrief. Egal, ob der Patient überlebt hat oder nicht.

Die Forderung der Strassenverkehrsämter stösst auch beim Schweizerischen Samariterbund, der die Nothelferkurse anbietet, auf Unverständnis. Direktorin Regina Gorza lässt die sinkende Anzahl Verkehrstote als Argument nicht gelten und sagt: «Jedes Unfallopfer ist eines zu viel.»

Nothelferkurs abschaffen?

Seit Anfang Jahr hat der Samariterbund den Nothelferkurs verbessert: Neu müssen die Teilnehmenden realistische Unfallsituationen bewältigen, ohne davor eine Vorführung der Experten zu erhalten. Dies soll den angehenden Verkehrsteilnehmern helfen, das Gelernte besser abzuspeichern und dann auch wieder abzurufen, wenn es darauf ankommt, wie Gorza erklärt.

Musterkanton Tessin

Die Zweifel am Sinn eines einmaligen Nothelferkurses bleiben. Dass die Überlebenschancen in der Bevölkerung erst mit besser ausgebildeten Freiwilligen steigt, zeigt das berühmt gewordene Beispiel das Kantons Tessin. Die Stiftung «Ticino Cuore» hat ein Netz von rund 4000 ausgebildeten Freiwilligen (darunter auch alle Feuerwehren, Polizisten und Sanitäter), die bei einem Notfall via Handy und App kontaktiert werden und so schneller als die Ambulanz vor Ort sind. Insgesamt sind laut der Stiftung 16 Prozent der Tessiner ausgebildet, nicht alle sind solche «First Responder». Während die Überlebensrate von Patienten mit Herzstillstand in der Schweiz bei weniger als 10 Prozent liegt, konnte sie im Tessin auf fast 50 Prozent gesteigert werden.

Wer hilft, macht sich nie strafbar
In der Schweiz ist jeder Bürger verpflichtet, einem Menschen, der sich in Lebensgefahr befindet, zu helfen. Wer dies vorsätzlich unterlässt, macht sich gemäss Artikel 128 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) der Unterlassung der Nothilfe strafbar und kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft werden. Der Gesetzgeber kennt allerdings zwei Ausnahmen: So kann einem Laien die Hilfe nicht zugemutet werden, wenn er sich selbst zu grossen Gefahren aussetzen müsste oder es seine Psyche, beispielsweise aus Ängstlichkeit, nicht zulässt.

Ob die Hilfe genützt hätte, spielt indes keine Rolle, da es sich um ein «abstraktes» Gefährdungsdelikt handle, wie Rechtsanwalt David Schneeberger auf der juristischen Online-Bibliothek «lexwiki.ch» schreibt. Der Laie kann daher nicht geltend machen, seine Hilfe hätte sowieso nicht genützt.

So weit, so gut. Doch muss ein Laie mit einer Verurteilung rechnen, wenn er bei der Nothilfe etwas falsch macht? Artikel 125 des StGBs lässt darauf schliessen. Dort heisst es unter Ziffer 1: «Wer fahrlässig einen Menschen am Körper oder an der Gesundheit schädigt, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.»

Gemäss dem Leitfaden des Schweizerischen Militär-Sanitäts-Verbandes muss man sich deswegen keine Sorgen machen, weder straf- noch zivilrechtlich: «Für den Nothelfer besteht keine Haftung, wenn er bestrebt war, im Rahmen seiner Möglichkeiten das Beste zu erreichen, und der Entschluss, trotz Mangelhaftigkeit der eigenen Ausbildung und der zur Verfügung stehenden Hilfsmittel einzugreifen, nicht leichtfertig gefasst wurde.» Es ist bisher kein Gerichtsfall bekannt, wo ein Laienhelfer in der Schweiz angeklagt wurde.

Aktuelle Polizeibilder: 

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bild: kapo Aargau
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Video: srf/SDA SRF
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