Von weitem sieht der Mann aus wie Yoko Ono. Von nahmen wie Yoko Ono mit einem seltsam operierten Mund und grossen Ohren. Der Mann hat ein Geheimnis: sein Geschlecht. Beziehungsweise: Der Mann macht ein Geheimnis aus seinem Geschlecht. Es heisst, er habe die Geschlechtsumwandlung zur Frau auf halbem Weg gestoppt. Er wäre damit tatsächlich ein Trans-Mensch. Einer zwischen den Geschlechtern. Lost in Transition.
Seine Erklärungen für sein Aussehen: 1. Er habe einen schlimmen Autounfall gehabt; 2. Er habe seine Kieferform seinem Gebiss anpassen müssen, und deshalb würden jetzt die Wangenknochen ganz anders wirken; 3. Er habe mit Woody Harrelson («True Detective», «Hunger Games») zusammen eine uuuuunheimlich effiziente Diät gemacht, da habe sich eben sein ganzer Köper verändert; 4. Eine Operation? Er? Er sei doch kein Selbstverstümmler! 5. Der Grund dafür, dass er nur noch Frauenjeans trägt? Ach, weil die einfach viel besser geschnitten sind. 6. Who fucking cares?
Gerne gibt er in einem einzigen Interview mehrere dieser Erklärungen zum Besten. Er will bloss nicht mit der Wahrheit rausrücken. Cimino ist der Autor seiner selbst. Das Ich ist eine Fiktion. Alles andere übrigens auch. Michael Cimino ist nicht Caitlyn Jenner. «Ich bin nicht, der ich bin, und ich bin, der ich nicht bin», sagte der 2002 in der «Vanity Fair».
Damals erschienen die ersten Fotos von ihm mit verändertem Aussehen. 25 Jahre lang hatte er sich nicht fotografieren lassen. Aus einem leicht aufgeschwemmten Macho war ein zierliches Wesen mit neuem Gesicht geworden. Sein Alter heute: 76 Jahre. Er liebt es allerdings, Journalisten einen zweiten Pass unter die Nase zu halten, in dem sein Alter erst 63 Jahre ist.
An seiner Seite in Locarno ist eine blonde Frau in Rot, eine gewisse Calantha Carelli Mansfield, von der es heisst, er sei vielleicht mit ihr verheiratet. Sie ist die Tochter eines ehemaligen Mitarbeiters, er kennt sie also, seit sie auf der Welt ist. Wie Caitlyn Jenner liebt auch Michael Cimino Frauen. Hunderte soll er gehabt haben, geht die Legende, einige von ihnen haben sich gerächt, haben hässliche Geschichten über ihn in der Presse erzählt, haben dazu beigetragen, dass er keine Aufträge mehr erhielt in Hollywood. Eine der Geschichten gegen Michael Cimino ist, dass er für die Dreharbeiten zu seinem Finanzfiasko «Heaven's Gate», mit dem er 1980 eigenhändig ein ganzes Filmstudio ruinierte, 50'000 Dollar für Kokain budgetiert gehabt hätte.
Michael Cimino ist einer von denen, die in Locarno einen Preis erhalten. Für sein Lebenswerk, das klein, teuer, ruinös und grossartig ist. Mit dem Vietnam-Drama «The Deer Hunter» gewann er 1979 fünf Oscars, und auch jetzt, auf der Piazza Grande ist «Ther Deer Hunter» noch immer der Film, von dem man denkt, dass kein Amerikaner, der ihn sieht, jemals wieder in den Krieg ziehen kann.
Fast drei Stunden dauert das Epos über drei Männer (darunter Robert De Niro und Christopher Walken) aus einer kleiner Industriestadt in Pennsylvania. In Vietnam werden sie gefangen genommen, das Gefängnis besteht aus Käfigen, die in einem Fluss stehen, die Häftlinge werden gezwungen, russisch Roulette zu spielen, verlieren den Verstand, Körperteile, das Leben. Nur De Niro überlebt einigermassen unbeschadet und versucht zuhause, das Herz einer wunderschönen jungen Meryl Streep zu gewinnen. Doch nach dem Krieg ist immer noch mitten im Krieg.
«The Deer Hunter» ist damit der zweite Film mit Meryl Streep, der in Locarno auf der Piazza läuft, und es ist ein purer Segen nach Streeps vollkommen beknacktem Musikfilm «Ricki and the Flash», einem derart faul ausgedachten Streifen, dass ihr Abba-Film «Mamma Mia!» dagegen schon fast mit einem Meisterwerk wie «Fight Club» verglichen werden kann. Nur der Boxerfilm «Southpaw» mit Jake Gyllenhaal im Muskelprotz-Method-Acting-Modus war noch schlechter. Okay, der «Wir bewältigen den Holocaust auf Ibiza»-Quatsch «Amnesia» mit Bruno Ganz, Marthe Keller und Joel Basman (ach je, nicht jeder Basman-Film ist super, leider) ebenfalls. Und der israelische Wettbewerbsbeitrag «Tikkun». Egal.
An einem der vielen höllenheissen, tropisch feuchten Nachmittage dieses Festivals steht Cimino in einem Zelt und unterhält sich mit unzähligen Fans. Wie er denn mit den Aggressionen in der Filmindustrie und der Presse umgehe, fragt jemand. «Kein Problem, ich habe Persönlichkeit», sagt er, «ich behaupte bloss, nett zu sein.» Überschwänglich amerikanisch erzählt er von der Bedeutung von Träumen. Vom Festhalten an den Träumen. Sein bester Freund Mickey Rourke (auch er ein Mann mit Gesichtsveränderungen) sagte einmal, Cimino sei Mitte der 90er-Jahre, während des Drehs zu seinem letzten Film «The Sunchaser» dem Wahnsinn ein gutes Stück entgegen geritten.
«Haben Sie einen Traum?», fragt Cimino einen Mann vor sich. «Mmmmhh, ja, ich träume davon, dass mein Buch gelesen wird», antwortet der Mann. «Sind Sie Schriftsteller?» – «Ähm, nein, bloss Journalist, aber manchmal schreibe ich auch Bücher.» – «Ha! Journalismus sind Worte, Worte, Worte! Oft unvorsichtig verwendete Worte! Stop that journalism-nonsense! Versprechen Sie mir das.» – «Ich versprech’s.»
Bei alledem ist Cimono ungemein heiter, ein Leuteverzauberer, so ganz anders als Edward Norton, auf den sich alle so gefreut hatten und der am Ende so motiviert war wie ein lauwarmer Waschlappen. Und wird am Ende dazu beigetragen haben, dass Locarno – nicht zuletzt dank des grossartigen Wetters – auch 2015 mit Riesenabstand an der Spitze der Schweizer Filmfestivals bleibt.
167'000 Eintritte wurden in Locarno 2014 registriert, davon allein 65'500 auf der Piazza Grande. Im Vergleich: Das Zurich Film Festival verzeichnete 2014 79'000 Eintritte, die Solothurner Filmtage 2015 67'000. Die Budgets: 13 Millionen Franken für Locarno, 7 Millionen für Zürich, 3,2 Millionen für Solothurn (wobei Solothurn auch keine superteuren internationalen Gäste einladen muss. Ein Beispiel: Der Besuch von Woody Allen würde Locarno oder Zürich rund 1 Million Franken kosten).
Es ist also alles gut in Locarno, die Menschen strömen, die Sponsoren tönen froh, auch die Restaurantlage hat sich deutlich verbessert (La Rinascente!). Nur die Ränder des Lago Maggiore stinken, anders kann man’s leider nicht sagen. Weil der Wasserspiegel diesen Sommer drastischer sinkt als sonst, 3 bis 5 Zentimeter täglich. Weil die Italiener das Wasser brauchen, um die Po-Ebene nicht austrocknen zu lassen. Das Resultat erinnert an Mangrovenwälder bei Ebbe. Die Muscheln, die man sonst erst ab einem Meter Tiefe findet, sind jetzt nur noch von 20, 30 Zentimeter Wasser bedeckt. Nur die Enten lieben den schlammigen Dreck. Und die Stechmücken. Aber die lieben hier sowieso alles, was warm, feucht und halbwegs lebendig ist. 24 Stunden lang.