Kathrin Bertschy ist derzeit eine gefragte Frau. Die Berner Nationalrätin und ihre Grünliberale Partei (GLP) werden bei den Beratungen über die Altersvorsorge 2020 in der Frühjahrssession nächste Woche eine Schlüsselrolle spielen. Bertschy ist auch Mitglied einer illustren Gruppierung, die sich zu Jahresbeginn erstmals getroffen hat. Sie will ein «optimistisches Narrativ» entwickeln, als Alternative zur nationalkonservativen SVP-Schweiz.
«Es gibt zwar gute Begriffe, die für eine offene progressive Schweiz stehen, wie etwa Chancenland. Die Herausforderung besteht aber darin, diese in eine glaubwürdige, einprägsame Erzählung einzubetten. Das machen wir mit der progressiven Narration», sagt Bertschy.
Am Treffen waren bekannte Persönlichkeiten wie der Politgeograf Michael Hermann und der Satiriker Viktor Giacobbo vertreten. Den Lead übernommen aber hat das von Kathrin Bertschy präsidierte GLP Lab, mit dem die Grünliberalen Neuland betreten. Als erste Partei der Schweiz haben sie einen eigenen Thinktank gegründet.
Die Grünliberalen melden sich zurück, und das ist auch nötig, denn die letzten Jahre meinten es nicht gut mit der lange vom Erfolg verwöhnten Partei. Vor zwei Jahren erlitt sie mit ihrer Volksinitiative «Energie- statt Mehrwertsteuer» ein Debakel von historischem Ausmass: 92 Prozent der Stimmberechtigten sagten Nein. Bei den nationalen Wahlen im Oktober 2015 folgte der nächste Tiefschlag: Ihre Fraktion im Bundeshaus wurde von 14 auf sieben Sitze halbiert.
Für die Verluste war in erster Linie der Proporz verantwortlich. GLP-Präsident Martin Bäumle, ein Meister der politischen Mathematik, hatte 2011 in einigen Kantonen clevere Listenverbindungen geschmiedet. Vier Jahre später wollten die damaligen Partner nicht mehr als «Steigbügelhalter» dienen. Das Problem aber geht tiefer. Den Grünliberalen haftet das Image einer «Modepartei» für Hedonisten mit schlechtem Gewissen an. Eine Korrektur gelang bislang nicht.
Die Grünliberalen befänden sich «im tiefen Schlaf», konstatierte der Inlandchef der NZZ im Januar. Dabei hat intern der Wecker längst geläutet. Ende Oktober 2016, ein Jahr nach dem Wahlfiasko, wurde das GLP Lab mit einem Fest in Zürich offiziell lanciert. Trotz bislang eher bescheidenen Medienechos ist das Interesse gross. «Mehr als 500 Personen haben sich gemeldet, um aktiv mitzuarbeiten», sagt Corina Gredig, die Mitgründerin und Leiterin des Politlabors.
Mit ihrer Denkfabrik sprechen die Grünliberalen bewusst Leute an, die sich nicht in den klassischen Strukturen engagieren möchten. «Viele wollen nicht mehr die ‹Ochsentour› machen», sagt Kathrin Bertschy. Wer trotzdem Politik machen wollte, hatte bislang wenig Optionen. Dadurch gehe viel Potenzial verloren, meint Bertschy: «Es braucht andere Gefässe, in denen man Politik kreativ erleben und gestalten kann.» Dieses Bedürfnis soll das GLP Lab abdecken.
Man wolle «progressiv-liberale Ideen fördern», umschreibt Corina Gredig die Stossrichtung des Labors. Ein weiteres, durchaus beabsichtigtes Ziel ist die Schärfung des Parteiprofils. In diesem Bereich haben die Grünliberalen ein Problem. Im Parlamentarier-Rating der NZZ sind sie klar links der Mitte situiert. Und damit in einem Segment, in dem sie nur von der EVP «konkurrenziert» werden. Wahrgenommen aber werden sie als Technokraten-Partei, die in Finanz- und Steuerfragen oder der Sozialpolitik eher nach rechts tendiert.
«Unsere Positionierung ist eigentlich klar, aber es ist uns zu wenig gelungen, dies zu vermitteln», räumt Kathrin Bertschy selbstkritisch ein. Das wiegt schwer, denn viele progressiv denkende Leute fühlen sich politisch «verwaist». Sie tun sich schwer mit der «Kulturkampf»-CVP von Gerhard Pfister und der «Klassenkampf»-SP von Christian Levrat. Die FDP ist für sie zu wenig ökologisch und sozial. Bei der BDP bemüht sich Präsident Martin Landolt um eine progressive Ausrichtung. In der Realität aber tummelt sich die Partei im überbevölkerten Mitte-rechts-Spektrum.
Das Problem der «heimatlosen» Linksliberalen hat watson nach den Wahlen 2015 thematisiert. «Eigentlich ist es verheerend für die Grünliberalen, dass man bei dieser Frage nicht sofort an sie denkt», sagte Michael Hermann damals in einem Interview. Die Botschaft kam an, das Interview war einer der Auslöser für die Gründung des GLP Lab. Als «Ideenküche» soll es dazu beitragen, die Partei für Mitte-links-Wähler «salonfähig» zu machen.
Was in diesem Segment möglich wäre, zeigt der Kanton Bern, wo die Grünliberalen stets linksliberal politisiert haben. Damit verteidigten sie 2015 nicht nur die beiden Nationalratssitze von Kathrin Bertschy und Jürg Grossen. Bei den Stadtberner Wahlen 2016 kamen die GLP und ihre Jungpartei zusammen auf rund zehn Prozent. Auf den ersten Blick beeindruckt dies kaum, doch Bern gehört zu den wenigen Kantonen, in denen eine starke Mitte-links-Partei existiert.
Die Grüne Freie Liste (GFL) hat mehrfach den Einzug in die Kantonsregierung geschafft. Im Januar eroberte sie mit Alec von Graffenried das Berner Stadtpräsidium. Er setzte sich gegen die profilierte SP-Frau Ursula Wyss durch. Die Erfolge von GFL und GLP in Bern wie auch die glänzenden Wahlresultate von gemässigten Sozialdemokraten zeigen auf, was eine schlagkräftige Mitte-links-Partei in den anderen Kantonen und national erreichen könnte.
Dazu braucht es Ideen, und die soll das GLP Lab liefern. In welche Richtung dies gehen kann, zeigt das Positionspapier zur Aussenpolitik, das Ende Januar verabschiedet wurde. Darin sprechen sich die Grünliberalen für den Freihandel und das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU aus. Im heutigen Umfeld wirke dies «einigermassen verrückt», meinte der «Tages-Anzeiger». Man kann es auch anders interpretieren: In einer Zeit, in der sich selbst die SP in der Europapolitik defensiv verhält, positionieren sich die Grünliberalen als konsequent öffnungsbereite Partei.
Das Aussenpolitik-Papier wurde vor der Lancierung der Denkfabrik erarbeitet. Sie soll bald erste Ideen liefern. Bereits in der Frühjahrsession werden zwei Vorstösse eingereicht, die von der Taskforce Landwirtschaft erarbeitet wurden. In der Pipeline sind Projekte in den Bereichen politische Bildung, Digitalisierung und Politiktransparenz, sagt Corina Gredig. Weitere Themen sind ein neuer Gesellschaftsvertrag zwischen den Generationen und eine progressive Drogenpolitik, inklusive Cannabis-Legalisierung. «Die Schweiz kann in diesem Bereich ein Vorbild werden, wie in den 1990er Jahren», meint Gredig.
Für Kathrin Bertschy verkörpert das GLP Lab nichts weniger als «die Zukunft, wie Politik gemacht wird». Ein willkommener Nebeneffekt wäre die Rekrutierung von neuem Personal. In diesem Punkt hat die Partei ebenfalls ein Problem. Nach wie vor mangelt es an profilierten Köpfen neben Präsident Martin Bäumle, von dem in letzter Zeit nicht mehr viel zu vernehmen war. Auf Augenhöhe mit ihm agieren allenfalls Kathrin Bertschy und Fraktionschefin Tiana Angelina Moser.
Bislang arbeitet das GLP Lab rein ehrenamtlich, man hofft auf Spenden und Sponsoren. Eine Garantie, dass mit der parteieigenen Denkfabrik der Turnaround gelingen wird, besteht nicht. Dazu hat das Image der Grünliberalen in den letzten beiden Jahren zu stark gelitten, nicht zuletzt wegen der unseligen Energiesteuer-Initiative. Aber der Anfang ist gemacht, und das Terrain in der linken Mitte ist vorhanden. Es muss nur konsequent beackert werden.