Schweiz
Gesellschaft & Politik

Max Jaeggi, der Fahnder des Fall Seewens, zu Rupperswil

Max Jaeggi präsentiert die Tatwaffe, eine abgesägte Winchester. 
Max Jaeggi präsentiert die Tatwaffe, eine abgesägte Winchester. 
Bild: keystone

«Vielleicht haben ihn die Löwen gefressen»: Ex-Fahnder Jaeggi über das schwerste Verbrechen der Schweiz und den Fall Rupperswil

Der Vierfachmord von Rupperswil hat Max Jaeggi zurück in die Vergangenheit katapultiert. Sein halbes Leben lang suchte der Fahnder nach der Täterschaft im «Fall Seewen». Das Verbrechen gilt als eines der schrecklichsten in der Schweiz – und ist ein Grund, weshalb Jaeggi bis heute keinen Internetanschluss hat.
19.01.2016, 09:4720.01.2016, 15:36
Felix Burch
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Max Jaeggi steht vor seiner Stammbeiz am Rande des Städtchens Solothurn, zieht an seiner Tabakpfeife und rückt seinen Lederhut zurecht. Eigentlich möchte er nicht mehr über den Fall reden, der ihn schon sein halbes Leben lang beschäftigt. Doch nachdem kurz vor Weihnachten in Rupperswil vier Menschen ermordet wurden und die Polizei seither im Dunkeln tappt, ist sein Fall ein weiteres Mal in aller Munde – und bei Jaeggi die Erinnerungen an eines der schwersten ungelösten Verbrechen in der Schweiz wieder ganz aktuell. 

«Das Erste, das mir durch den Kopf ging als ich von den Rupperswiler Morden hörte, war: Die Polizisten, die jetzt in die Hosen müssen, das sind arme Kerle.» Jaeggi weiss, wovon er spricht.

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Am 6. Juni 1976, vor fast 40 Jahren, sass er an diesem Pfingstsonntag am Esstisch, als jener Anruf einging, der sein Leben verändern sollte. Jaeggi solle umgehend hoch kommen zum «Waldeggli» in Seewen, fünf Menschen seien umgebracht worden in einer kleinen Hütte, es eile. Jaeggi, damals Fahnder bei der Kantonspolizei Solothurn, fuhr sofort los. 

Der Tatort: Das «Waldeggli» in Seewen.
Der Tatort: Das «Waldeggli» in Seewen.
bild: keystone

Zwei Kollegen waren schon am Tatort. Was sie vorfanden, war auch für die erfahrenen Polizeibeamten erschreckend. Vier Tote in der kleinen Hütte, dazu eine Leiche auf der Veranda – in einen Teppich gewickelt. Jaeggi ging zum Kofferraum seines Pikettfahrzeuges und holte seine mobile Schreibmaschine heraus. «Es war eine herkömmliche Hermes, noch ohne Automatik». Die ersten Stunden nach einer Tat seien die wichtigsten. Alles musste rasch gehen. Gegen 30 Beamte bildeten eine Sonderkommission. «Der Druck der Öffentlichkeit und der Medien war riesig.»

«Bei solchen Verbrechen muss alles in Betracht gezogen werden.»
Max Jaeggi, Ex-Fahnder 
Der Fünfachmord von Seewen
Der Fünffachmord von Seewen ist das grösste ungeklärte Verbrechen in der Kriminalgeschichte der Schweiz. Die Bluttat ereignete sich am 5. Juni 1976 im «Waldeggli», einem kleinen Wochenendhaus in Seewen. Elsa Siegrist (62) und ihr Mann Eugen Siegrist (63) wurden regelrecht hingerichtet. Ebenso Eugen Siegrists Schwester Anna Westhäuser (80) sowie ihre Söhne Emanuel (52) und Max (49). 13 Schüsse wurden aus einer Winchester abgefeuert, vier Leichen in die kleine Hütte geschleppt, die fünfte lag auf der Terrasse in einen Teppich gewickelt. Obwohl bei der Polizei über 9000 Hinweise eingingen, konnte das Verbrechen bis heute nicht geklärt werden. Das Tatmotiv bleibt unklar. (feb) 
Max Jaeggi
Als sich Max Jaeggi dem Fünfachmord von Seewen annahm, war er 40 Jahre alt. Der Fahnder der Kantonspolizei Solothurn hatte Habichtsaugen und war dafür bekannt, dass er kein Gesicht je vergass, wie das «NZZ Folio» schreibt. Er war damals Mitglied der Ringer-Nationalmannschaft. Bei Max Jaeggi liefen alle Fäden im Fall Seewen zusammen. Über 20 Jahre lang arbeitete er daran und auch nach seiner Pension kommt er immer wieder mit den Morden in Berührung. Max Jaeggi wird dieses Jahr 80 Jahre alt und wohnt in Solothurn. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne (feb).

Der Druck auf die Fahnder, da ist sich Jaeggi sicher, wird auch im Fall Rupperswil nicht abnehmen. «Die müssen allem nachgehen, wirklich allem.» Sonst komme irgendwann die Retourkutsche. Im Fall Rupperswil stehen laut Fiona Strebel von der Staatsanwaltschaft Aargau mittlerweile 40 Ermittler im Einsatz. Weil sich der brutale Vierfachmord kurz vor Weihnachten abspielte, mussten einige ihre freien Festtage streichen, andere aus den Ferien zurückkommen. 

In dieser Phase müsse alles in Betracht gezogen werden, weiss Fahnder Jaeggi. Fragen wie: War es eine Familienfehde, ein Spionageakt, hat es etwas mit einer Liebesgeschichte zu tun? müssten gestellt werden. «Nicht nur am Anfang, immer wieder.» 

Die erste Nacht arbeiteten Jaeggi und seine Kollegen durch. Danach stellte er ein Feldbett in seinem Privatauto auf, er war ständig unterwegs. Wenige Tage nach der Bluttat von Seewen bekam die Polizei den ersten wichtigen Hinweis. Der Wissenschaftliche Dienst hatte die Untersuchung der 13 Patronenhülsen, die am Tatort zurückblieben, abgeschlossen und kam zum Schluss: bei der Tatwaffe handelt es sich um ein Winchester-Gewehr. 

«Wir zogen Aktionen durch, von denen wir überzeugt waren, dass sie zu 99 Prozent zu keinem Ergebnis führten; aber wir mussten es tun, um zu beweisen, dass wir nichts unversucht liessen.»
Max Jaeggi, Ex-Fahnder

«Dieser Hinweis war enorm wichtig. Darauf konnten wir aufbauen», sagt Jaeggi. Das sei ein grosser Unterschied zu Rupperswil, wo es nicht so aussieht, als gebe es eine Spur. Eine Tatwaffe wurde bislang nicht gefunden. Weder die mehreren Dutzend Hinweise aus der Bevölkerung noch die Dash-Cam-Auswertungen, die die Aargauer Polizei vornimmt, haben bislang zum Durchbruch verholfen. 

Moderne Technik hatte Jaeggi damals nicht zur Verfügung – kein Internet, keine DNA-Analysen – aber er hatte die Spur mit dem Winchester-Gewehr. «Wir klapperten alle Waffenhändler ab». Die Ermittler suchten sämtliche 3007 Besitzer von Winchester-Gewehren in der Schweiz auf. Am Tag acht nach der Tat fuhr beim «Waldeggli» ein Kran vor, hob das Wochenendhäuschen an und brachte es zur Spurensicherung nach Liestal. Die Beamten nahmen es komplett auseinander. Resultate blieben vorerst aus. Die Ermittler standen vor einem Rätsel und stellten sich folgende Fragen: 

  • Was war das Motiv?
  • Warum wurden alle Opfer aus kürzester Distanz von vorne erschossen?
  • Wo ist die Tatwaffe?
  • Warum flüchteten die Opfer nicht?
  • Kannten die Opfer den Täter?

«Minutiös gingen wir alles durch. Wir suchten nach allen nur erdenklichen Verbindungen zu den Opfern. Wir telefonierten unzählige solche Verbindungen ab und erstellten für alles Karteien.» Während dieser Zeit dürfe man sich nicht aus der Ruhe bringen lassen trotz dem grossen Druck – und trotz der vielen Besserwisser. Selbst Wahrsager hätten sich zu dieser Zeit gemeldet. «Viele sagten uns, was wir zu tun hätten. Wir zogen Aktionen durch, von denen wir überzeugt waren, dass sie zu 99 Prozent zu keinem Ergebnis führten; aber wir mussten es tun, um zu beweisen, dass wir nichts unversucht lassen.» Rückblickend meint er: «Sie lassen dich nie in Ruhe!» 

Der Fall Rupperswil beschäftigt die Bevölkerung 

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Vierfachmord von Rupperswil AG
Barbara Loppacher, leitende Staatsanwältin der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau, informiert wahrend der Medienkonferenz zum Tötungsdelikt Rupperswil.
quelle: keystone / alexandra wey
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Der Vierfachmord von Rupperswil
Die Morde von Rupperwil sind ein Rätsel. Am 21. Dezember 2015 rückte die Feuerwehr zu einem Brand in einem Haus in Rupperswil und fand dort vier Leichen. Alle vier Leichen wiesen Stich- oder Schnittverletzungen auf. Die Personen wurden zuvor getötet, der Brand absichtlich gelegt. Die Opfer sind Carla Schauer (48), ihre Söhne Davin (13) und Dion (19) sowie dessen Freundin Simone (21). Der Vater der Kinder lebt getrennt von der Familie im Kanton Luzern; Carla Schauers Lebenspartner ist Leiter einer Bankfiliale. Forensiker sprechen immer wieder von der grossen Brutalität, mit der die oder ein einzelner Täter vorgegangen sind. Kurz bevor Carla Schauer umgebracht wurde, hob sie Geld auf zwei verschiedenen Bankfilialen ab. Obwohl die Behörden seit Wochen mit Hochdruck an der Aufklärung des Falls arbeiten, scheint es bisher keine konkrete Spur zu geben. (feb)

In dieser Phase stecken momentan die Rupperswil-Ermittler, und auch sie stehen vor einem Rätsel-Mord. Folgende Fragen sind ungeklärt: 

  • Was war das Motiv?
  • Warum benutzte der oder die Täter Messer?
  • Wo ist die Tatwaffe?
  • Wie gelangte die Mutter zur Bank?
  • Gibt es einen Zusammenhang zu anderen Todesfällen?
  • War es ein «Zufallsmord» oder haben die Täter eine Verbindung zu den Opfern?
Robert Siegrist, der Sohn der Opfer, hat ein Buch über den Fall geschrieben.
Robert Siegrist, der Sohn der Opfer, hat ein Buch über den Fall geschrieben.
bild: keystone

Wie viel Arbeit die Suche nach den Antworten auf solche Fragen verursacht, zeigen Zahlen zum Fall Seewen eindrücklich:

  • Über 9000 Hinweise aus der Bevölkerung
  • 10'000 befragte Personen
  • 27 Hausdurchsuchungen
  • 21 Überprüfungen von Tatverdächtigen 
  • 9 Menschen in Untersuchungshaft 
  • 10 Klärungen von Nebendelikten, darunter die Überführung eines Pädophilen 

Für Jaeggi und sein Team gab es lange kaum Freitage. «Darunter leidet die eigene Familie am meisten.» Seine Frau und seine zwei Söhne sah er viel zu wenig. «Oft gab es Tage, an denen ich um 2 Uhr nachts nach Hause kam und um 6 Uhr wieder zur Arbeit fuhr.» Hätte er all die Überzeit aufgeschrieben, hätte er zwei Jahre früher in Pension gehen können, sagt Jaeggi heute schmunzelnd.

Die Ermittler liessen nichts unversucht, wirklich weiter kamen sie aber nicht. «Nach einem halben Jahr begannen wir, unsere Tätigkeiten in diesem Fall herunterzufahren.» Trotzdem gab es immer wieder Arbeit im Fall Seewen. Und weil bei Jaeggi alles zusammenlief, jedes Dokument über sein Pult ging, begleitete ihn der Fünffachmord Jahrzehnte lang weiter. «Es war normale Polizeiarbeit, ohne Emotionen, die Hoffnung gaben wir jedoch nie auf.» Er habe immer wieder versucht, sich in den Täter hinein zu versetzen, um offene Fragen beantworten zu können. Ohne Ergebnis.

Bis im Herbst 1996. 20 Jahre nach der kaltblütigen Tat von Seewen geschah etwas unvorhergesehenes. Bei Renovierungsarbeiten in einem Haus in Olten wurde eine Küchenkombination entfernt. Dabei kam ein Hohlraum in der Mauer zum Vorschein und darin entdeckten Handwerker einen Pass, einen Versicherungsbeleg, Briefe mit nationalsozialistischem Inhalt und ein Gewehr. Bei der Waffe handelte es sich um eine Winchester, der Pass lautet auf den Namen Carl Doser. Doser war einer der Winchester-Besitzer, den die Polizei nach der Tat befragt hatte. 

Die Tatwaffe und Bilder von Carl Doser. Die Bilder sind Fotomontagen. Die Polizei liess Doser darauf künstlich altern. 
Die Tatwaffe und Bilder von Carl Doser. Die Bilder sind Fotomontagen. Die Polizei liess Doser darauf künstlich altern. 
bild: keystone

Jaeggi stürzte sich wieder auf den Fall. Die Winchester wurde ballistisch getestet und das Resultat liess keine Zweifel offen: Das abgesägte Gewehr war die Tatwaffe. Doser allerdings war verschwunden. Jaeggi liess ihn zwar international ausschreiben, aber der Mann war unauffindbar. Es gab Gerüchte, wonach sich Doser nach Afrika abgesetzt hatte. Doch der «Fall Seewen» gilt bis heute als ungelöst.

An der Pressekonferenz 1996 informierten die Beamten über die Tatwaffe.
An der Pressekonferenz 1996 informierten die Beamten über die Tatwaffe.
bild: keysonte
«Hätten sich in Rupperswil weitere Leute im Haus aufgehalten, hätte es bestimmt noch mehr Tote gegeben.»
Max Jaeggi, Ex-Fahnder

Mittlerweile ist die Akte geschlossen, seit 2006 ist der Fall Seewen so genannt «absolut verjährt». In diesem Jahr jährt sich das grösste ungeklärte Verbrechen der Schweizer Kriminalgeschichte zum 40. Mal. Bleibt es für immer ungelöst? «Wohl schon», meint Jaeggi knapp. «Ich weiss, dass Carl Doser in irgend einer Form am Mord beteiligt war. Finden werden wir ihn aber nicht mehr, vielleicht ist er bereits tot, von Löwen gefressen oder so.» Schlecht schlafe er deswegen nicht. «Ich habe bewusst kein Internet, das hilft.» Ganz loslassen wird ihn der Fall allerdings nie. Es höre nie auf, immer wieder «tröpfle etwas rein». «Ob von einem Polizist oder einem Staatsanwalt – ich bekomme auch heute noch Anrufe.» 

Eine Einschätzung zu Rupperwil wagt er aus der Ferne und ohne Kenntnis zu den Einzelheiten nicht. Eine Aussage macht er jedoch: «Der oder die Täter gingen wirklich brutal vor. Hätten sich weitere Leute im Haus aufgehalten, hätte es bestimmt noch mehr Tote gegeben.» Was er nicht versteht und sich immer wieder fragt: «Warum musste die junge Frau, die nicht zur Familie gehörte, auch sterben?»

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18 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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erican
19.01.2016 10:56registriert Juli 2015
sehr schön geschrieben.
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Zum Kommentar
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Bebbi
19.01.2016 10:56registriert Januar 2014
Toll geschriebener Bericht. Von einem, der nicht dabei war, also jetzt nacherzählt… In Tat und Wahrheit ist es ein komplettes Versagen der SO-Polizeiführung. Ich glaube der Kommandant hiess Huwyler, ein kleiner, dicker Typ. Typ Jeanmaire: Ein Schaumschläger. Für ihn war Seewen «Euses Füürli» und aus Ehrgeiz liess er die Basler Polizei nicht dran. Dafür vertrampelten seine Mannen die Spuren und gingen Blickreporter Köng auf den Leim, der falsche Spuren legte. Zum Glück für Huwyler lenkten die Demos von Gösgen von seinem Versagen ab. Fragt Robert Heuss von der BS-Polizei.
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