Verkehrte Welt in der Sozialpolitik: Bis vor sechs Jahren erklärten der Gewerkschaftsbund und dessen Chef, Paul Rechsteiner, die AHV sei solide finanziert, sie schreibe Überschüsse. «Der Bundesrat hat den Leuten ständig mit falschen Zahlen Angst gemacht und damit den Leistungsabbau gerechtfertigt», beklagte der SP-Ständerat aus dem Kanton St. Gallen in der «NZZ». Unter anderem verstehe er nicht, wieso die Bürgerlichen das Rentenalter der Frauen auf 65 erhöhen wollten. Das war im Sommer 2011. Heute kämpft Rechsteiner für ein Ja zur Altersreform, deren Inhalt er massgeblich mitbestimmt hat. Dazu gehört auch die Erhöhung des Frauenrentenalters.
Wo sich die Wirtschaft durchsetzte
Doch damit nicht genug: Sozialminister Alain Berset erinnerte an der Medienkonferenz im Juni daran, dass sich die Wirtschaft (und mit ihr die bürgerlichen Parteien) in fast allen Punkten durchgesetzt haben:
Das Frauenrentenalter wird ab 2018 jährlich um drei Monate auf 65 erhöht. Ab 2021 ist es also jenem der Männer angeglichen.
Um die Pensionskassen zu entlasten, wird die Rente aus der zweiten Säule um 12 Prozent gekürzt. So wird der Mindestumwandlungssatz in vier Schritten um jeweils 0.2 Prozentpunkte pro Jahr von 6.8 auf 6 Prozent gesenkt.
Die Mehrwertsteuer wird nicht um 2 oder 1.5 Prozentpunkte erhöht, wie es der Bundesrat forderte, sondern um 0.6 Prozentpunkte, wie es der Arbeitgeberverband (SAV) in der Vernehmlassung 2013 verlangte.
Eine Senkung der Eintrittsschwelle in der beruflichen Vorsorge hat das Parlament in Rücksicht auf die Wirtschaft ebenfalls abgelehnt.
Ähnlich erging es der Möglichkeit einer Frühpensionierung für tiefe Einkommen: abgelehnt.
Das Parlament hat sich zudem erfolgreich gegen eine Reduktion des Bundesbeitrags gewehrt. Der Bundesrat wollte diesen auf 18 Prozent senken, nun bleibt er bei 19.55 Prozent.
Das Parlament hat hingegen die Lebensversicherer verschont: Heute müssen diese laut Gesetz 90 Prozent ihrer Erträge den Vorsorgeeinrichtungen abgeben, zehn Prozent dürfen sie abschöpfen. Der Bundesrat wollte die sogenannte Mindestquote von 90 auf 92 Prozent erhöhen. Das Parlament hat dies abgelehnt.
Die Erhöhung der Lohnbeiträge für Selbständigerwerbende konnte das Parlament ebenfalls abwenden. Der Bundesrat wollte alle gleichstellen. Ohne Erfolg. Während Arbeitgeber und -nehmer zusammen 8.4 Prozent Lohnbeiträge abgeben, zahlen Selbstständige weiterhin bloss 7.8 Prozent.
Den Wunsch einer Flexibilisierung des Rentenbezugs zwischen 62 und 70 Jahren hat der Bundesrat umgesetzt.
Zudem wird der Koordinationsabzug nicht ganz abgeschafft, aber angepasst und leicht gesenkt. Zudem werden die Altersgutschriften für 35- bis 54-Jährige um 1 Prozentpunkt erhöht, so wie es der SAV in der Vernehmlassungsantwort vorschlug.
Auch vergleichsweise kleine Änderungen wie die Abschaffung der Kinder- und Witwenrenten verhinderte der Arbeitgeberverband erfolgreich.
Die «rote Linie»
Es bleibt ein wesentlicher Punkt, bei welchem sich die Wirtschaft nicht durchsetzen konnte, und an welchem sich das Schicksal der Vorlage wohl entscheidet. Der Zustupf à 70 Franken AHV für jeden Neurentner. Dieser soll über eine Erhöhung der Lohnabgaben von 0.3 Prozentpunkten finanziert werden. Im Parlament bezeichneten bürgerliche Politiker diesen Zustupf als «rote Linie». Die AHV müsse saniert und nicht ausgebaut werden, so der Tenor. Bis heute ist dies der Hauptgrund, wieso sich Wirtschaftsverbände, FDP und SVP gegen die Reform wehren. Und wieso sie auf einmal auch eigene Forderungen als schlechte Lösungen verkaufen. So warnte SVP-Nationalrat Thomas de Courten (BL) die Frauen, dass sie bei Annahme der Vorlage länger arbeiten müssen.
Freilich ärgern sich die Befürworter nun darüber, dass die Kampagne sich nur um den «ungerechten Zustupf» dreht. Alain Berset wirft den Gegnern gar vor, die 70 Franken allein aus «Prinzipiengründen» abzulehnen. Denn finanziell hätte es zwischen den zwei Vorlagen, die am Ende übrig blieben, keinen Unterschied gemacht. Berset sprach von Kompromiss, von Geben und Nehmen. «Die 70 Franken waren der notwendige Schritt, um jene Kreise, die gegen all die anderen Punkte waren, für die Vorlage zu gewinnen.» (aargauerzeitung.ch)