Normalerweise gelten die Sommer- und Herbstmonate als die Zeit, in der die meisten Flüchtlinge in die Schweiz gelangen. Weil dann das Mittelmeer ruhiger ist, wagen sich besonders viele auf die gefährliche Überfahrt.
Nicht so dieses Jahr. Die Zahl der eingereichten Asylgesuche sind auf ein Rekordtief gesunken. Im August haben 2049 und im September 1409 Personen in der Schweiz einen Asylantrag gestellt. Zum letzten Mal waren die Asylzahlen vor sieben Jahren so tief.
Doch diese neuen Statistiken scheinen niemanden so wirklich zu interessieren. Angesichts der Hysterie, die bei der Flüchtlingsthematik vor einem Jahr herrschte, ist das jetzige Schweigen bemerkenswert. Die Schlagzeilen von damals sind noch in guter Erinnerung. Die Rede war von einem «Flüchtlingstsunami», der über Europa bricht. «Massen» wurden erwartet und mit «dem Schlimmsten» gerechnet.
Der Tessiner Polizeidirektor Norman Gobbi (Lega) sagte vor einem Jahr: «Wir sind nicht vorbereitet. Es droht die Katastrophe für die Schweiz.» Er äusserte die Befürchtung, die Schweiz werde überrannt, und forderte den Einsatz der Militärpolizei an der Grenze in Chiasso. Die jüngsten Entwicklungen der Asylzahlen blieben von Gobbi bisher unkommentiert. Den grossen Tageszeitungen waren die aktuellen Zahlen höchstens eine kleine Meldung wert.
Anders im Sommer 2015 und 2016. Wie oft das Wort «Flüchtling» in den Medienberichten auftauchte und inwiefern die Anzahl der geschriebenen Artikel mit dem Anstieg der Asylzahlen korrelierte, macht folgende Grafik deutlich. Schön zu sehen ist, dass ab Juli 2015 die Zahl der Berichte über Flüchtlinge höher war, als die Zahl jener Flüchtlinge, die in der Schweiz ankamen:
Auch Nationalrat Andreas Glarner (SVP) malte bis vor kurzem noch schwarz. Im Frühling 2016 forderte er: «Die Schweiz muss ihre grüne Grenze mit einem Stacheldrahtzaun abriegeln.» Ansonsten werde es zu einer Flüchtlingsinvasion kommen.
Zuletzt blieb der grosse Ansturm jedoch aus. Dies hat jedoch nichts mit der erfolgreichen Politik von Gobbi, Glarner und Co. zu tun. Das sind die 3 wichtigsten Gründe, warum derzeit so wenig Flüchtlinge in die Schweiz gelangen:
Nach dem Drama auf der Balkanroute beginnt der ungarische Premier Viktor Orban im September 2015 mit dem Bau eines Zauns um sein Land. Daraufhin führt Schweden wieder Grenzkontrollen ein. Österreich beschliesst Ende Januar 2016 eine Limitierung der Flüchtlinge. Auch Slowenien macht seine Grenzen dicht. Eine Kettenreaktion entsteht. Bis Anfang März schotten sich auch Kroatien, Mazedonien und Serbien gegen aussen ab. Mit dem Deal der EU und der Türkei schliesst die Balkanroute definitiv.
Die Route verschiebt sich wieder auf das Mittelmeer. Wem die Überfahrt von Libyen nach Italien gelingt, versucht weiter in den Norden zu kommen. Die meisten geben als Zielland «Deutschland» oder «Schweden» an. Die Schweiz wird für Flüchtlinge zum Transitland. Die Grenzwächter sind damit beschäftigt, illegal Eingereiste zurück nach Italien zu schaffen.
Mitte Juli dieses Jahres erreichen 5000 Flüchtlinge an einem Tag die italienische Küste. Ein Rekordwert. Im August verzeichnet das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) noch durchschnittlich 65 Menschen, die pro Tag über das Mittelmeer in Italien ankamen. Die libysche Küstenwache hat auf Druck von Italien begonnen, Schlepperbanden gezielt zu bekämpfen.
Bereits im Februar hat Italien mit der libyschen Übergangsregierung einen Deal abgeschlossen. Die Italiener bilden die libysche Küstenwache aus und stellen finanzielle Mittel zur Verfügung. Die Libyer sollen Schlepperboote abfangen, bevor diese internationale Gewässer erreichen.
Auf eigene Faust und ohne dies von der internationalen Gemeinschaft absegnen zulassen, erweitert Libyen den Radius seines Hoheitsgebiets im Meer von 12 auf 74 Seemeilen. Damit kann die Küstenwache in einem viel grösseren Einsatzgebiet nach Flüchtlingen suchen und diese zurück in die Flüchtlingslager bringen. Laut Menschenrechtsorganisationen herrschen dort unhaltbare Zustände.
Im Zuge der Aufrüstung der libyschen Küstenwache wird auch der Druck auf private Seenotretter auf dem Mittelmeer verstärkt. Diese sind in ihrem Suchradius eingeschränkt und werden laut eigenen Aussagen von den Libyern mit Waffengewalt bedroht.
Die libysche Küstenwache soll bereits 13'000 Flüchtlinge aus dem Meer geholt und zurück ans Festland gebracht haben, bevor ihnen private Retter zuvorkamen.
Hilfsorganisationen wie «Sea Eye», «Ärzte ohne Grenzen» und «Save the Children» wollten sich zwischenzeitlich ganz aus dem Rettungsgebiet vor der libyschen Küste zurückziehen. Die Organisation «Open Arms» sagt, auf sie seien Warnschüsse abgegeben worden.
Libyen befindet sich noch immer im Bürgerkrieg. Die Übergangsregierung ist von der EU nicht anerkannt. Bewaffnete Milizen liefern sich immer wieder einen Machtstreit, der Tote zur Folge hat. Es gibt Berichte aus Sabratha, einer Hafenstadt im Nordwesten von Libyen, wo eine Miliz für Angst und Schrecken sorgen soll. Die bewaffneten Mitglieder würden auf den Strassen patrouillieren und dafür sorgen, dass keine Flüchtlinge in die Boote von Schlepper steigen.
Es wird darüber gerätselt, ob diese Miliz Gelder von der Übergangsregierung aus Tripolis erhält. Diese wiederum bekommt zur Kontrolle der Küste finanzielle Unterstützung von Europa.