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Der Totalschaden ist abgewendet – der Blindflug geht weiter

Die Ecopop-Initiative ist ablehnt, die Unsicherheit bleibt.
Die Ecopop-Initiative ist ablehnt, die Unsicherheit bleibt.Bild: RUBEN SPRICH/REUTERS
Wie weiter nach dem Ecopop-Nein?

Der Totalschaden ist abgewendet – der Blindflug geht weiter

Nach dem Nein zur Ecopop-Initiative sind die bilateralen Verträge mit der EU vorerst gerettet. Doch es bleiben viele offene Fragen, nicht zuletzt die Umsetzung der SVP-Zuwanderungsinitiative.
01.12.2014, 07:2601.12.2014, 08:28
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Der Wirtschaftsminister warnte eindringlich: «Ein Ja zu Ecopop wäre ein Totalschaden» , sagte Johann Schneider-Ammann vor drei Wochen am Europa-Forum in Luzern. Den Totalschaden hat Ecopop erlitten, die Initiative erlebte an der Urne ein veritables Debakel. Die Erleichterung ist riesig. «Dank dem klaren Nein zu #Ecopop können wir jetzt wieder sachlich über die zukünftigen Beziehungen der CH mit der EU diskutieren», twitterte der Zürcher FDP-Nationalrat Ruedi Noser. 

Erst kürzlich hatte Noser in einer Fernsehsendung erklärt, die bilateralen Verträge hätten «heute nicht mehr die gleiche Bedeutung wie vor 20 Jahren». Auch andere Stimmen aus dem bürgerlichen Lager haben in letzter Zeit begonnen, die Wichtigkeit der Bilateralen für die Schweiz herunterzuspielen. Sie dürften nun verstummen, das Ecopop-Nein wird nicht zu Unrecht auch als Votum für die Bilateralen interpretiert, die im Volk nach wie vor stark verankert sind.

SVP-Initiative als Knacknuss

Trotzdem bleibt vieles unklar, denn das Ecopop-Nein macht die Annahme der SVP-Zuwanderungsinitiative am 9. Februar nicht rückgängig. «Die starke Ablehnung von Ecopop zeigt nur, dass die Leute voll auf unsere Initiative setzen», interpretierte der Bündner SVP-Nationalrat Heinz Brand gegenüber watson das Ergebnis vom Sonntag. Ihre Kompatibilität mit den Bilateralen bleibt die grosse Knacknuss.

Die Schweiz will mit der EU über eine Anpassung der Personenfreizügigkeit verhandeln. Doch Brüssel hat sich nur zu Gesprächen über «praktische Probleme bei der Einhaltung des Abkommens» bereit erklärt. Die Einführung von Kontingenten, wie sie die SVP-Initiative verlangt, wird ausgeschlossen. Manche in der Schweiz hofften deshalb auf Schützenhilfe aus Grossbritannien, wo die Zuwanderungskritiker auf dem Vormarsch sind.

David Cameron sprach am letzten Freitag zum Thema Zuwanderung.
David Cameron sprach am letzten Freitag zum Thema Zuwanderung.Bild: POOL/REUTERS

Diesen Hoffnungen verpasste der konservative Premierminister David Cameron am Freitag eine kalte Dusche. In einer Rede zur Migrationspolitik forderte der britische Regierungschef Einschränkungen bei den Sozialleistungen für EU-Zuwanderer. Von Kontingenten oder einer Ventilklausel, mit denen er im Vorfeld geliebäugelt hatte, war keine Rede mehr. Das «Schweizer Modell» wies er sogar explizit zurück.

Auf ein Entgegenkommen aus Brüssel darf die Schweiz nicht hoffen. Umso wichtiger wird die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Der Bundesrat will sie wortgetreu vornehmen, der Umsetzungsentwurf und das Mandat für Verhandlungen mit der EU gehen nächste Woche in die Ämterkonsultation. Anfang 2015 werde der Bundesrat entscheiden, sagte die zuständige Justizministerin Simonetta Sommaruga.

Absehbar ist das weitere Vorgehen: Im Parlament wird sich eine Mitte-links-Allianz für eine «weiche» Umsetzung bilden, um die Personenfreizügigkeit und die Bilateralen zu retten. Sie wird sich durch das wuchtige Ecopop-Nein bestätigt fühlen, entsprechende Wortmeldungen waren am Sonntag bereits zu vernehmen. Ein Scheitern der Vorlage ist nicht ausgeschlossen.

Ein gewagtes Spiel

Unklar ist, wie es dann weiter geht. Die SVP-Initiative verlangt eine Umsetzung innerhalb von drei Jahren. Muss der Bundesrat in eigener Regie Kontingente und Inländervorrang einführen? Oder will man riskieren, dass der Volkswille nicht umgesetzt und der Verfassungsartikel vom 9. Februar toter Buchstabe bleibt? Das wäre ein äusserst gewagtes Spiel. Die SVP wird keinesfalls tatenlos zuschauen, sie hat bereits eine mögliche Durchsetzungsinitiative angekündigt.

Staatssekretär Yves Rossier (r.) und sein bisheriger Verhandlungspartner, EU-Chefdiplomat David O'Sullivan.
Staatssekretär Yves Rossier (r.) und sein bisheriger Verhandlungspartner, EU-Chefdiplomat David O'Sullivan.Bild: YVES HERMAN/REUTERS

Dabei könnte sich das Schicksal der Bilateralen auf einem bislang wenig beachteten Nebenschauplatz entscheiden: Den Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU. Diese sind angeblich weit voran gekommen, konnten aber nicht wie erhofft noch in der am 30. Oktober abgelaufenen Amtszeit der «alten» EU-Kommission abgeschlossen werden.

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Aussenminister Didier Burkhalter hat kürzlich in mehreren Interviews Auskunft zum Stand der Verhandlungen gegeben. Das ist mehr als ungewöhnlich und gibt zu Spekulationen Anlass: Hat die Schweiz Mühe, ihre «roten Linien» bei der Übernahme von EU-Recht und der Zuständigkeit des EU-Gerichtshofs in Streitfällen zu verteidigen? Für Christoph Blocher und seinen Kampf «gegen den schleichenden EU-Beitritt» wäre dies ein gefundenes Fressen.

Der Totalschaden wurde mit dem Nein zu Ecopop verhindert. Aber der Blindflug in der Europapolitik wird andauern. Und im nächsten Herbst sind Wahlen. Setzt die Schweiz bei der Zuwanderung auf ein «Weiter wie bisher», darf sich die SVP die Hände reiben.

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15 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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klugundweise
01.12.2014 09:28registriert Februar 2014
Wer Bedenken oder gar Angst hat wegen dauerndem Wachstum, Dichtestress, unkontrollierter Einwanderung etc. soll mit der Beschränkung bei sich selber beginnen: weniger Konsum, weniger Wohnfläche, weniger Mobilität usw. und der Grundsatzdiskussion über den Sinn unseres Wachstumswahns. (Anstatt in Entwicklungsländern Kondome zu verteilen...)
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