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Der Mann mit der Fliege geht – und kritisiert das Schweizer Milizparlament

Claude Longchamp, Institutsleiter gfs.Bern, informiert die Medien am Dienstag, 3. Oktober 2006, in Zuerich. Eine Mehrheit der Stimmberechtigten spricht sich fuer ein Gesundheitswesen aus, das staerker ...
Claude Longchamp, der wohl bekannteste Schweizer Meinungsforscher, verlässt das SRF.Bild: KEYSTONE

Der Mann mit der Fliege geht – und kritisiert das Schweizer Milizparlament

Vor seinem Abgang als Abstimmungserklärer am Schweizer Fernsehen macht sich Meinungsforscher Claude Longchamp für ein Berufsparlament stark. Das Milizsystem auf Bundesebene ist aus seiner Sicht schon heute eine Fiktion.
14.05.2017, 13:2014.05.2017, 14:17
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Die Parlamentarier in Bern seien heute genau genommen «Portfolio-Manager», sagte Longchamp in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag». «Sie üben zu einem grossen Prozentsatz ihr Amt aus. Und daneben setzen sie den Einfluss und das Wissen, das sie damit erlangen, gewinnbringend für andere Mandate ein.»

Aus Longchamps Sicht sollte sich das ändern. Auf Gemeindeebene sei das Milizparlament ein Segen, auf kantonaler Ebene ein Vorteil, aber auf Bundesebene sei es Fiktion. «Wir sollten zu einem Berufsparlament übergehen und damit anerkennen, dass Politik eine vollamtliche Tätigkeit ist.» Eine solche Reform würde etwa die störenden Interessenkonflikte beseitigen, sagte er.

Reformversuche scheiterten

Mit einem Wechsel sollte nach Longchamps Vorstellung unter anderem die Amtsdauer beschränkt werden, so dass es regelmässig Wechsel gibt. Bedenken, dass mit einem Berufsparlament eine Art «Politikerkaste» entstehen könnte, zerstreut er. «Wieso? Auch in einem Berufsparlament gibt es Lebens- und Alltagserfahrung.»

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Das Parlament hat sich über die vergangenen Jahrzehnte professionalisiert und die Parlamentarier wenden laut Studie für ihr Amt mehr Zeit auf. Mehr und mehr Parlamentarier sind faktisch sogar Vollzeitpolitiker. Reformen hin zu einem Berufsparlament oder aber zur Stärkung des Milizprinzips scheiterten jedoch.

Kritik an «Trefferquote»

Der 60-jährige Longchamp hat vor rund einem Jahr sein Forschungsinstitut gfs.bern an zwei Mitarbeiter verkauft und seinen Abgang angekündigt. Am kommenden Sonntag ist es soweit: Longchamp hat anlässlich des Urnengangs über das Energiegesetz seinen letzten Auftritt beim Schweizer Fernsehen an einem Abstimmungssonntag.

«Wir waren zuletzt um Längen besser als die Amerikaner und die Briten, wir waren anerkanntermassen ganz einfach die Besten»

Immer wieder zu reden gab in seiner über 25-jährigen TV-Karriere die «Trefferquote» seiner Umfragen bei Abstimmung. Longchamp reagiert genervt auf solche Kritik: Er mache keine Prognosen bei Abstimmungen, sondern «Momentaufnahmen und Trends». Etwa wegen der Unentschlossenen seien Voraussagen bei Abstimmungen schwierig.

Anders sehe es bei Wahlen aus. Dort mache er Prognosen - und zwar erfolgreich: «Wir waren zuletzt um Längen besser als die Amerikaner und die Briten, wir waren anerkanntermassen ganz einfach die Besten», sagte er.

Krise nach Anti-Minarett-Initiative

Von Longchamps Zeit noch länger in Erinnerung bleiben dürfte die grosse Abweichung bei der Anti-Minarett-Initative 2009. Longchamps Institut sah eine Nein-Mehrheit von 53 Prozent; die Initiative wurde jedoch mit 57.5 Prozent Ja angenommen. «Das war fraglos die schwierigste Zeit für mich», sagte Longchamp.

Er sei nahe daran gewesen aufzuhören und sei zwölf Wochen unter Psychopharmaka gestanden. «Drei Monate später habe ich dann entschieden, weiterzumachen».

Trotz aller Abweichung könne er sich keine Fehler vorwerfen lassen. «Es gibt mittlerweile 1000 Seiten wissenschaftliche Literatur über diese Umfrage. Und nirgends steht, ein anderer hätte es besser machen können.»

Longchamp wird weiter mit dem gfs.bern-Institut verbunden bleiben. Er wird Projekte betreuen und soll bis 2019 Verwaltungspräsident bleiben. Zunächst will er aber auf Weltreise gehen. (wst/sda)

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29 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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alessandro
14.05.2017 15:09registriert März 2014
Ein Milizsystem befürworten bedeutet ein in Kauf nehmen des Faktes, dass in den arbeitsintensiven Posten (z.B. Ständerat) die Politiker entweder auf weitere Geldgeber angewiesen sind (Sponsoren, VR-Mandate, Bestechung) oder selbst einfach reich sind. Beides keine Dinge die mir mit Demokratie direkt in den Sinn kommen. Zum Glück sinds so viele Anwälte, da sind deren Bestecher sogar noch gesetzlich durch das Anwaltsgeheimnis geschützt.

Wir sind stolz auf unsere Demokratie, aber hinken in der Unabhängigkeit der Politiker selbst brutal hinten nach.

#Doublestandards
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Pius C. Bünzli
14.05.2017 15:15registriert Oktober 2014
Als Narionalrat würd ich nicht mehr arbeiten. Kommt doch genug Kohle rein durch das Mandat.
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Ökonometriker
14.05.2017 17:30registriert Januar 2017
Das heutige System ist doch eine gute Mischung - wer Vollzeitpolitiker sein möchte, kann sich in Kommissionen engagieren. Wer weiterhin arbeiten möchte, kann dies auch. Dies fördert die Meinungspluralität, das Verständnis für das normale Volk und gibt den Politikern Freiheit.

Viel wichtiger wäre es, eine bessere Durchmischung der Berufsgruppen zu erreichen. Es gibt zu viele Anwälte im Parlament, während z.B. Handwerker gnadenlos untervertreten sind. Selbst in der SP Fraktion gibt es nur 1 Handwerker (+ 1 KV), der Rest sind Beamte & Akademiker. Wer kennt so die Sorgen des normalen Arbeiters?
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