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Warum die Schweiz den Sonderfall vergessen – aber die Unabhängigkeit behalten sollte

Rütlischwur im Bundeshaus: Wie steht es um die historischen Fakten?
Rütlischwur im Bundeshaus: Wie steht es um die historischen Fakten?Bild: KEYSTONE
Schweiz-Debatte

Warum die Schweiz den Sonderfall vergessen – aber die Unabhängigkeit behalten sollte

Die welsche Journalistin Joëlle Kuntz rechnet in ihrem neuen Buch mit den überholten Mythen der Vergangenheit ab.
06.10.2014, 08:4309.10.2014, 10:14
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In der Euphorie der Globalisierung wurde der Nationalstaat bereits abgeschrieben. Management-Gurus wie Peter Drucker oder Kenichi Ohmae sprachen von einer Welt ohne Grenzen und führten als Gründe den raschen technologischen Fortschritt, vor allem das Internet, ins Feld. In einer Welt der Bits und Bytes hätten nationale Grenzen keinen Platz mehr, lautete die gängige These. 

Rein wirtschaftlich gesehen ist dies auch eingetroffen. Wie das jüngste Beispiel von Irland und Apple zeigt, haben Nationalstaaten gegenüber internationalen Multis ihre Steuersouveränität de facto verloren. Das gilt auch für die Supermacht USA, die mehr oder weniger ohnmächtig zuschauen muss, wie die Grossen die bestehenden Gesetzeslücken ausnutzen und mehr oder weniger so viel Steuern zahlen, wie es ihnen gerade gefällt. 

Die SVP kämpft gegen fremde Richter und Kolonialverträge

Politisch gesehen hingegen geschieht genau das Gegenteil. Der Nationalstaat feiert weltweit ein Comeback. In Europa sind nationalistische Rechtskonservative auf dem Vormarsch, in den USA ist die chauvinistische Tea Party zu einer Macht geworden und auch in Asien schlagen die chinesischen, indischen und japanischen Politiker immer offener nationalistische Töne an. 

In der Schweiz hat die SVP die Lufthoheit in Sachen Nationalismus errungen. Blocher & Co. singen das Hohelied auf die Souveränität des Landes, wollen nichts von angeblich «fremden Richtern» wissen, stellen Volkshoheit über Menschenrechte, sprechen von «Kolonialverträgen» und sind zum Entsetzen der Wirtschaft gar bereit, die bilateralen Verträge mit der EU in Frage zu stellen. 

Umgekehrt wird der Rütlischwur als Geburtsstunde einer unabhängigen Eidgenossenschaft verklärt und die 500-Jahr-Feier der Schlacht von Marignano zu einer Huldigung einer unabhängigen und neutralen Schweiz erhoben. Doch wie steht es um die historischen Fakten? Wie unabhängig war die Schweiz in den letzten Jahrhunderten? Und wie steht es heute mit der Souveränität? 

Die Journalistin Joëlle Kuntz (zweite von rechts) in den Hallen der UNO in Genf.
Die Journalistin Joëlle Kuntz (zweite von rechts) in den Hallen der UNO in Genf.Bild: KEYSTONE

Diesen Fragen ist Joëlle Kuntz, eine führende Journalistin der Westschweiz, in ihrem Buch «Die Schweiz – oder die Kunst der Abhängigkeit» nachgegangen. Sie zeigt dabei, dass ein grosser Teil des eidgenössischen Unabhängigkeitsgefühls auf Verklärung der Wirklichkeit beruht. Hier die wichtigsten Thesen: 

Der Rütlischwur war ein banales Sicherheits- und Wirtschaftsbündnis

Der Rütlischwur war nicht die Geburtsstunde der Schweiz, sondern eines von vielen Bündnissen unter Bauern. «Dieses Bündnis wurde, wie viele andere jener Zeit auch, zur Verteidigung von kommerziellen und Sicherheitsinteressen geschlossen, ein für das Mittelalter banaler Vorgang», schreibt Kuntz. 

Im Mittelalter war die Eidgenossenschaft nie unabhängig

Im Mittelalter war die Eidgenossenschaft formell stets ein Mitglied des «Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationen», wenn auch kein besonders aktives. Kuntz: «Der Historiker Thomas Maissen hat festgestellt, dass die kaiserlichen Insignien in der Schweiz erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus den offiziellen Wappen und Siegeln verschwanden.»

Die Schweiz hat sich ihre Neutralität nicht selbst erkämpft

Nach der Niederlage Napoleons wurde Europa 1815 am Wiener Kongress neu aufgeteilt. Die Schweiz wurde dabei als neutral und unabhängig erklärt, aber sie hatte sich dieses Privileg nicht selbst erkämpft, es wurde ihr grosszügig gewährt. «Das Vertragsregime machte aus der Schweiz einen bescheidenen Staat, dem bewusst war, ohne die Zustimmung der Grossen nicht bestehen zu können», stellt Kuntz fest.

Die Schweiz wurde erst mit dem «Landigeist» zum «Sonderfall»

1848 wurde die moderne, föderalistische Schweiz gegründet. Zu einem Sonderfall wurde sie jedoch erst durch die Verklärung im Zuge des Zweiten Weltkrieges – beispielsweise der Landigeist. Kuntz: «Die seit sechs Jahrhunderten verankerte direkte Demokratie und die fortgesetzte nationale Zelebration der Waldstätten-Folklore trugen dazu bei, dass die Schweizer den Sonderfall mehr denn je kultivierten.»

Historisch gesehen kommt Kuntz zu folgendem Fazit: «Im Blut der Schweizer gibt es kein Chromosom der Unabhängigkeit. Dagegen gibt es ein Bewusstsein der Abhängigkeit und die Kunst, sich darin zurechtzufinden.» 

«Im Blut der Schweizer gibt es kein Chromosom der Unabhängigkeit.»
Joëlle Kuntz

Im Kalten Krieg lebte die Schweiz in der besten aller Welten. Der Sonderfall wurde von den westlichen Alliierten gleichzeitig geschützt und geduldet. Nach dem Fall der Berliner Mauer hingegen wurde der Ton rauer. Ohne kommunistische Bedrohung aus dem Osten konnte sich auch der Westen sehr gut vorstellen, ohne Bankgeheimnis zu leben. Die Schweiz geriet unter Druck: in den 1990er Jahren bei der Affäre um die Holocaust-Gelder, neuerdings wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung.

Das Festhalten am Sonderfall führt zu psycho-politischer Schizoprenie

Heute ist der Sonderfall Schweiz definitiv Geschichte. Das bedeutet jedoch nicht das Ende der Souveränität. Globalisierung, Liberalisierung, Internationalisierung des Rechts und Relativierung der Grenzen würden nicht heissen, dass der Nationalstaat an Bedeutung verloren hätte, stellt Kuntz fest. «Die Unabhängigkeit ist nicht mehr ‹gegen› jemanden zu wahren, sondern verbindet sich mit dem Einsatz ‹für› eine internationale Ordnung.» 

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Das Festhalten am Sonderfall führt gemäss Kuntz zu einer «psycho-politischen Schizophrenie» gegenüber Europa: «Auf der einen Seite steht der Wunsch, die Union möge funktionieren, denn man fühlt sich ihr ganz selbstverständlich zugehörig, weil man alle ihre Werte teilt. Auf der anderen Seite herrscht die geheime Überzeugung, dass sie etwas Unmögliches darstellt, dass sie nicht funktionieren kann und dass es sinnlos ist, Hoffnungen in sie zu setzen.»

Die direkte Demokratie ist in Gefahr

Die SVP gefährdet mit ihren zunehmend radikaleren Tiraden gegen Brüssel und die EU gar das Prunkstück der politischen Schweiz, die direkte Demokratie. «Heute besteht die Gefahr, dass sie zu einer gegen das Parlament und Regierung gerichteten Maschinerie verkommt», schreibt Kuntz. 

Historisch gesehen war die Schweiz kein Sonderfall. Gerade die alten Eidgenossen haben ihre Unabhängigkeit bewahrt, indem sie ganz bewusst auch die für sie nützlichen Abhängigkeiten gepflegt haben. Der «Sonderfall Schweiz» ist ein Produkt des Zweiten Weltkriegs und vor allem des Kalten Krieges. In der Weltordnung des 21. Jahrhunderts hingegen hat er sich überlebt. 

«In den Gesellschaften, in denen die Debatte frei und informiert verläuft, ist es keine Schande, nicht mehr vollständig unabhängig zu sein.»
Joëlle Kuntz

Die Schweiz sollte daher auf den Sonderfall verzichten, nicht aber auf die Unabhängigkeit. «In den Gesellschaften, in denen die Debatte frei und informiert verläuft, ist es keine Schande, nicht mehr vollständig unabhängig zu sein», schreibt Kuntz. «Im Gegenteil, es ist das sture Festhalten an der Unabhängigkeit, das angesichts der Vielfalt der zwischenstaatlichen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bande als überholt erscheint.»  

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