Norbert Röttgen ist wie Angela Merkel CDU-Mitglied und leitet den Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags. Im Interview erläutert er seinen Vorschlag, den er mit anderen europäischen Politikern erarbeitet hat: Länder wie Grossbritannien und die Schweiz sollen auch ohne Personenfreizügigkeit mit der EU zusammenarbeiten können.
Herr Röttgen, Sie veröffentlichten in einer Autorengruppe um den Thinktank Bruegel das Konzept der «Kontinentalen Partnerschaft». Welche Reaktionen erhielten Sie?
Norbert Röttgen: Es gab keine Reaktionen von Regierungen oder Regierungsmitgliedern. Das ist das Beste, was passieren kann. Vor den Verhandlungen mit Grossbritannien kann es gar keine positive Stellungnahme geben. Bemerkenswerterweise gab es aber auch keine ablehnenden Stellungnahmen. Mit Ausnahme der Präsidenten der EU-Kommission und des EU-Parlaments. Unser Vorschlag ist nun in den Köpfen und Unterlagen überall präsent. Er wurde breit wahrgenommen.
EU-Präsident Jean-Claude Juncker und Parlamentspräsident Martin Schulz übten Kritik?
Sie sagten, dass das ein störender Beitrag sei. Er weiche davon ab, dass alle vier Freiheiten der EU gälten – oder keine. Diese Kritik drückt den Glauben aus, man könne das Thema in technokratisch-taktischen Verhandlungen ohne öffentliche Beteiligung führen. Das war schon bei TTIP ein grosser Fehler. Aus ihm müsste man gelernt haben. Die Verhandlungen zum Brexit sind ein öffentlicher Vorgang. Sie sind nicht das Privileg von Beamten, die sich hinter verschlossenen Türen treffen.
Ein öffentlicher Vorgang sind sie, weil die Personenfreizügigkeit in vielen Ländern ein Thema ist?
Ja. Migration, Zuwanderung und Personenfreizügigkeit sind in jedem europäischen Land ein Nummer-eins-Politikum. Das muss man adressieren. Es geht dabei gar nicht in jedem Land um die EU-Migration, sondern auch um die Migration von ausserhalb der EU.
Sie stellten die Personenfreizügigkeit infrage. Ein Tabubruch?
Wir haben keine der vier Freiheiten – Güter, Dienstleistungen, Kapital, Personen – der EU und in der EU infrage gestellt. Wir sind im Gegenteil der Auffassung, dass diese Freiheiten in der EU gelten sollen. Wir machen aber einen Vorschlag, wie wir das Verhältnis zu europäischen Staaten gestalten wollen, die nicht EU-Mitglieder sind. Es geht um eine Aussenbeziehung. Da muss man zwischen praktischen und prinzipiellen Gründen unterscheiden.
Was verstehen Sie unter «praktischen Gründen»?
Schlägt man den Briten vor, sie müssten für eine Partnerschaft mit der EU alles akzeptieren, was die EU heute ausmacht, werden sie erwidern: Genau das hat unsere Bevölkerung abgelehnt. So kommt man zu keinem praktischen Ergebnis, wenn man ein möglichst enges Verhältnis zwischen der EU und Grossbritannien möchte.
Und was verstehen Sie unter «prinzipiellen Gründen»?
Prinzipiell sind wir der Auffassung, dass die drei Freiheiten Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr das ökonomische Projekt des Binnenmarktes ausmachen. Das Recht jedes Arbeitnehmers hingegen, in jedem EU-Land einer Arbeit nachzugehen, ist das politische Projekt. Dieses ist nur ein Projekt der EU. Die anderen Staaten wollen oder sollen ihm nicht angehören. Deshalb muss man differenzieren.
Entwickelten Sie Ihre Vision im Zusammenhang mit dem Brexit?
Ja. Jahrzehntelang hatte es nur eine Richtung gegeben: die Erweiterung und Vertiefung der EU. Nun scheidet die drittgrösste Volkswirtschaft aus. Das ist ein Bruch, mit dem wir uns beschäftigen müssen. Der Brexit bietet den Anlass, einen Ordnungsrahmen zu entwickeln für die bilateralen Beziehungen zu europäischen Staaten, die nicht Mitglied der EU sein wollen oder sollen. Das Modell einer kontinentalen Partnerschaft könnte zwar für Grossbritannien gelten. Aber genauso gut für Norwegen und die Schweiz. Und eines Tages vielleicht sogar für die Türkei.
Wie wichtig ist es für die EU, Grossbritannien eng an sich zu binden?
Die Welt um uns herum ist instabiler, verrückter und multipolarer geworden. Gleichzeitig hat kein einziger EU-Mitgliedstaat – weder Frankreich, Deutschland noch Grossbritannien – für sich allein global irgendeine Relevanz. Deshalb ist ein möglichst enges Verhältnis zwischen der EU und Grossbritannien in beiderseitigem Interesse dringend geboten. In einem geopolitischen Umfeld, das von Instabilität und Konflikten geprägt und immer weniger europäisch und westlich ist, brauchen wir Gemeinsamkeit.
Sehen Sie eine Gefahr, dass weitere Staaten dem Beispiel Grossbritanniens folgen und austreten?
Nein. Nach meiner Beobachtung gibt es kein einziges Land unter den 27 Mitgliedstaaten, das auch nur im Ansatz erwägt, aus der EU auszutreten.
Ein Austritt Frankreichs könnte zum Thema werden, sollte Marine Le Pen Staatspräsidentin werden.
Je mehr Frau Le Pen das vor den Wahlen verkündet, desto weniger wird sie Präsidentin Frankreichs. Nach meiner Einschätzung wird sie das sowieso nicht. Ich glaube, für die Franzosen steht es überhaupt nicht zur Debatte, aus der EU auszutreten. Auch nicht für Deutschland. Und für die kleineren Länder der EU schon gar nicht. Für sie ist es überlebenswichtig, der EU anzugehören. Wichtig ist aber, dass sich die EU als selbstbewusste Gemeinschaft versteht, die daran glaubt, dass die Mitgliedstaaten dazugehören wollen. Ich bin gegen eine strafende EU. Einer EU, die es nicht duldet, wenn man sie verletzt, fehlt die Ausstrahlung. Es geht nun darum, die Attraktivität Europas zu sichern.
Wann war die EU zu strafend in letzter Zeit?
Nach dem Brexit kam es zu beleidigten Reaktionen. Nach dem Motto: «Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt. Wir werden ein Exempel statuieren, damit niemand mehr auf die Idee eines solchen Unsinns kommt.» Diese Denk- und Redeweise gibt es.
Etwa bei EU-Parlaments-Präsident Martin Schulz.
(Überlegt) In Brüssel hört man das ab und an von den Spitzen der Institutionen, ja. Die Rhetorik lässt diese emotionale Haltung vermuten.
Morgen trifft EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker den Schweizer Bundespräsidenten. Ist im Moment eine Lösung bei der Masseneinwanderungs-Initiative überhaupt möglich?
Ich finde den Volksentscheid der Schweiz weder überzeugend noch sympathisch. Aber ich bin sehr dafür, dass es zu einer vernünftigen Lösung zwischen der EU und der Schweiz kommt. Der Vorschlag, den wir gemacht haben, kann auch ein Muster für die Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz abgeben.
In welchem Zeitrahmen?
In der Schweiz sind rasche Entscheidungen nötig. Man könnte schon versuchen, sich an Elementen unseres Vorschlages zu orientieren. Es müsste aus Schweizer Sicht und aus der Sicht der EU möglich sein, eine spezielle Vereinbarung zur Personenfreizügigkeit zu treffen.
Wie könnte sie aussehen?
Dass die Schweiz wie bisher am wirtschaftlichen Binnenmarkt teilnimmt. Dafür muss sie im Kern die Regeln des Binnenmarkts akzeptieren, ohne sie selber zu setzen. Was die Arbeitnehmerfreizügigkeit anbelangt, könnte ich mir aber ein Quotensystem vorstellen. Das hiesse allerdings, dass die Schweiz ihren Volksentscheid korrigieren und an ein Quoten-System anpassen müsste.
Die Schweizer Bevölkerung will die Zuwanderung mit Kontingenten und Höchstzahlen wieder selbst regeln. Sie sprechen von einer Art Schutzklausel?
Das Quotensystem verabredet ein Kontingent für EU-Bürger, welche die Möglichkeit haben, in der Schweiz eine Arbeit aufzunehmen.
In der EU ist das ein absolutes Tabu. Die Situation mit der Schweiz hat sich verhärtet.
Im Hinblick auf den Brexit wird die EU nicht bereit sein, der Schweiz irgendeine Form von Präjudiz zuzugestehen. Das dürfte die Verhandlungen erschweren.
Sie und Ihre Kollegen in der Autorengruppe haben Zugang zu diversen Regierungen. War dieser Vorschlag abgesprochen?
Nein. Wir haben ihn ganz bewusst als Privatpersonen geschrieben, nicht als Repräsentanten irgendwelcher Institutionen oder gar Staaten. Die Regierungen sind ja an Verhandlungen beteiligt. Wir haben keinen Hinweis darauf gemacht, wie die Verhandlungen beginnen sollen. Das müssen die Regierungen tun. Wir haben lediglich gezeigt, wie man die Verhandlungen mit einem guten Kompromiss beenden könnte.
Selbst Schweizer Bundesräte fragen sich, ob Sie den Vorschlag mit Angela Merkel abgesprochen haben.
Nein. (Lacht) Auch ich habe im Vorfeld nicht irgendeine Prokura – eine Vollmacht – eingeholt. Dann hätte dieser Vorschlag nicht geschrieben werden können. Als verhandelndes Land kann man so etwas nicht veröffentlichen. Wir haben unseren Vorschlag aber den entsprechenden Stellen zugeleitet, sobald wir ihn ausgearbeitet hatten, damit sie früh Kenntnis davon haben.
Sie sind aber nicht einfach irgendwer. Sie sind Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags.
Das bin ich. Dennoch habe ich den Vorschlag nur in meiner eigenen, persönlichen Verantwortung verfasst.
Sie scheinen zuversichtlich, dass der Vorschlag Fahrt aufnimmt – trotz der Kritik von Juncker und Schulz.
Ich glaube, diese Kritik ist sehr stark von Verhandlungstaktik und Besitzstanddenken geprägt. In Europa gibt es aber neue Realitäten, die immer sichtbarer und unübersehbarer werden. Darauf muss man Antworten geben. Wir haben eine gegeben. Und wir freuen uns auf weitere Antworten. Die gab es aber bislang nicht.
Sie sprechen von Antworten der EU?
Von wem auch immer. Von einer Regierung. Oder von Grossbritannien. Bislang gibt es nur diesen einen Vorschlag.
Grossbritannien hat noch nicht gesagt, in welche Richtung es gehen möchte.
Absolut. Die Briten sind am Zug, gar keine Frage.
Was erwarten Sie von der Schweiz? Sollte sich Bundespräsident Johann Schneider-Ammann am Montag dazu äussern im Gespräch mit Jean-Claude Juncker?
Da gebe ich keinen öffentlichen Ratschlag. Wir können nur den Vorschlag in der Sache machen. Jeder muss selber wissen, ob er sich damit beschäftigen möchte oder nicht.
Sollte die Schweiz selbstbewusster auftreten?
Ich würde mich freuen, wenn die Schweiz ausdrückt, dass sie eigene Interessen hat. Wenn sie aber vor allem auch ausdrückt, dass sie an einem dauerhaften, kooperativen Verhältnis zur EU interessiert ist. Wir sind so eng miteinander verbunden, dass es wichtig ist, das Verbindende zu betonen.
Muss die Schweiz damit rechnen, dass die EU die bilateralen Verträge kündigt, wenn sie einseitig gewisse Einschränkungen der Zuwanderung einführt?
Wenn die Schweiz geltende Verträge bricht, würde das nicht ohne Konsequenzen bleiben und bleiben können.