«Meine ganze Welt ist in einer Sekunde zusammengebrochen.» Sylvain Solioz (35) spricht leise und stockend ins Telefon. Vor einem Jahr starben seine Verlobte Christina (30) und die gemeinsame Tochter Kayla (6), als ein Terrorist mit einem LKW in die Menge raste – «meine zwei Sonnenscheine.»
Kayla und Christina sind weit weg von ihrem Zuhause in Yverdon VD gestorben, in Nizza, der Hafenstadt im Südosten Frankreichs. Ihr Todestag jährte sich vergangenen Freitag zum ersten Mal.
Sylvain, die heute 5-jährige Djulia und die knapp 2-jährige Kiméa waren damals auch vor Ort, konnten sich vor dem heranbrausenden 19-Tonner aber in Sicherheit bringen. Nun sind die drei an den Ort des Geschehens zurückgegangen.
An der Trauer-Zeremonie am vergangenen Freitag dabei zu sein, sei für ihre Trauerarbeit wichtig gewesen, so der Westschweizer. Seine Schwester ist auch mitgereist. Ohne sie als Stütze hätte Sylvain nicht die Kraft dazu gehabt. Die Reise war schmerzhaft: «Vor dem Gedenkstein mit den Namen meiner ‹princesses› bin ich in Tränen ausgebrochen.»
In seiner Trauer würden ihm besonders Gespräche mit anderen Opferangehörigen helfen. So wie mit einem Mann, der ebenfalls seine Tochter und seine Frau verloren hat. Auch dank diesen Gesprächen gehe es ihm langsam besser. Und trotzdem: Seit letztem Freitag sitze der Schmerz wieder tiefer als sonst.
Christina und er hätten sich damals so gefreut auf die Sommerferien in Frankreich und lange dafür gespart, erzählt der gelernte Maurer mit gebrochener Stimme. Es sollten die ersten Ferien ausserhalb der Schweiz für die ganze Familie sein.
Am Abend des französischen Nationalfeiertags 2016 gehen Sylvain, Christina, Kayla, Djulia und Kiméa zur Strandpromenade, um das Feuerwerk anzuschauen. «Es war schön, die Kleinen waren begeistert.» Doch einige Minuten später rast Mohamed Lahouaiej Bouhlel mit einem Lieferwagen über die Promenade.
«Ich war wie gelähmt», erzählt Sylvain. Der 19-Tonner des Terroristen hatte Christina und Kayla erwischt. Christina verstarb noch vor Ort, Kayla war verletzt. Sylvain durfte nicht mit ihr in die Ambulanz. Er musste mit Baby Kiméa im Arm – die trotz Sturz unversehrt blieb – und Djulia an der einen Hand, zu Fuss ins Spital. Als er dort ankam, war seine älteste Tochter tot.
Heute, ein Jahr später, können Sylvain, Djulia und Kiméa langsam wieder lachen. «Djulia träumte lange vom bösen Mann im LKW, der Mami tötet.» Nach monatelanger Psychotherapie schlafe das kleine Mädchen nun wieder ruhig. Er sei froh, dass seit einigen Wochen wieder eine Art Alltag in ihr Leben zurückgekehrt sei, so Sylvain.
Sylvain arbeitet nicht. Er ist IV-Bezüger, war es bereits vor Nizza. Er habe eine schwierige Vergangenheit, erklärt er, möchte nicht weiter darauf eingehen. Das Erlebte in Frankreich helfe bei seiner Genesung gewiss nicht. Dabei wolle er für Djulia und Kiméa stark sein. «Wie soll es ihnen gut gehen, wenn sie sehen, wie sehr ich leide?»
Kurze Zeit nach dem Terroranschlag musste Sylvain umziehen. Die alte Wohnung war zu gross und zu teuer geworden. Seither kümmert er sich alleine um seine zwei Kinder. Er fühle sich dabei oft alleine und erschöpft. Besonders am Anfang sei das schwierig gewesen. Kiméa, die Kleinere, konnte noch gar nicht laufen. Und Djulia hatte nur wenige Wochen nach dem Attentat ihren allerersten Schultag. Bewältigt habe er die ersten Wochen nur dank seiner Familie und Freiwilligen, die ihm auch noch heute bei der Betreuung der Kinder unter die Arme greifen.
Er versuche, offen mit Djulia und Kiméa über das Geschehene zu sprechen. Djulia frage oft, wann Mama und Kayla wieder vom Himmel herab kommen. «Warum Papa dann jeweils sagt, sie kämen gar nicht mehr zurück zu uns, versteht sie nicht.»