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Interview

Jürg Halter und die Angst des Dichters beim Islam

Jürg Halter: Schriftsteller, Musiker, Performancekünstler – und Kritiker der Linken.Bild: Eva Günter
Interview

«Statt den Islam zu kritisieren, schauen viele Linke weg und verkaufen das als Toleranz»

Er scheue sich nicht, Politik zu machen, sagt der Dichter und Schriftsteller Jürg Halter im Interview. Mit einem Kommentar auf Facebook machte Halter Politik – und Polemik, wenn es nach seinen Gegnern geht. Halter wirft den Linken vor, beim Thema «politischer Islam» wegzuschauen – und zwar aus «Feigheit». Ein Gespräch mit dem Künstler, der als Rapper Kutti MC Bekanntheit erlangte.
13.04.2017, 15:2714.04.2017, 16:37
William Stern
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«Die meisten Linken nennen sich ‹religionskritisch›», beginnt der Beitrag auf der Facebook-Seite des Dichters und Schriftstellers Jürg Halter. Was folgt, ist ein grosses, ein sehr grosses «Aber»:

«Aber kritisiert man neben dem Christentum AUCH den Islam, ist's für viele ein Tabubruch, ein Skandal.»

Halter, der als Kutti MC im Schweizer Rap Kultstatus erlangte, holt in seinem Kommentar aus zum Rundumschlag gegen das angebliche Wegschauen der Linken beim Thema Islam. Eine Kritik des politischen Islams sei bei der Linken nicht vorhanden, sagt Halter. 

Der Vorwurf ist nicht neu. Dass sich die Linke scheue, den Islam und seine radikalen Auswüchse entschieden genug zu verurteilen, gehört zum festen Repertoire gerade von Politikern und Beobachtern rechts der Mitte. Halter ist aber einer, der sich selbst als Linker bezeichnet. Wenn auch als «unnetter» Linker. 

Ein linker Künstler als Nestbeschmutzer?

Halters Kommentar provoziert auf Twitter und Facebook heftige Reaktionen. Für Halter ein klares Zeichen, dass er mit seiner Aussage «nicht so ganz daneben liegen kann».

Im Gespräch gibt sich Halter überlegt, wägt lange ab, zögert, und gibt sich Mühe, genau zu formulieren. Sein Anspruch, das wird deutlich: Eine differenzierte Sicht auf eine Religion, deren säkulare Anhänger fester Teil der westlichen Gesellschaften sind – auf die sich aber gleichzeitig Fanatiker von Islamabad bis Molenbeek berufen. Ein schwieriger, vielleicht uneinlösbarer Anspruch.

Herr Halter, Sie haben ein Problem: Den Umgang der Linken mit dem politischen Islam ...
Jürg Halter: Ja, die Linken werden nicht müde, gegen Rechtspopulismus und Neoliberalismus anzukämpfen. Sie behaupten, gegen alles Dogmatische zu sein und unterdrückende Systeme – aber eines erwähnen sie interessanterweise kaum je: Die Religion. Und der Islam – das ist eine Tatsache – ist nun mal diejenige Religion, die mit der Demokratie am schwierigsten zu vereinbaren ist. Es gibt kein Land mit muslimischer Mehrheit, das eine Demokratie wäre und wo Minderheiten nicht verfolgt würden. Was sicher auch an der postkolonialen Politik des Westens liegt.

Auch im Namen des Christentums werden Verbrechen begangen. Auch das Christentum ist, zumindest in seiner politischen Auslegung, ein fundamentalistisches System.
Genau, das ist dann immer der erste Einwurf: ‹Aber, das Christentum!› Ja, natürlich, beides sind Religionen mit einer blutigen Geschichte. Nur gibt es in der Gegenwart ein paar gewichtige Unterschiede: Während das Christentum die Ehe zwischen Homosexuellen ablehnt, steht in vielen muslimischen Ländern auf Homosexualität die Todesstrafe. Während die katholische Kirche die Gleichberechtigung von Mann und Frau in vielen Punkten bekämpft, ist die Frau in vielen muslimischen Ländern fast ohne Rechte. Und der Islam ist eine Gesetzesreligion. Es gibt keine Reformation wie im Christentum. Und es gibt keinen christlichen Gottesstaat. Sehr wohl aber gibt es mit dem Iran einen islamischen Gottesstaat. 

Wo sind denn all die Linken, die die Islamkritik verweigern?
Es passiert immer wieder. Die Handschlagverweigerung der Basler Schüler beispielsweise wurde von vielen Linken verteidigt. Dabei war das Ausdruck einer radikalen Auslegung des Islam. Oder die immergleichen Reaktionen auf Selbstmordattentate von Dschihadisten: ‹Jetzt nur ja keine voreiligen Schlüsse ziehen, nur ja keine Vorverurteilungen!› Selbstmordattentate werden nun mal fast ausschliesslich im Namen des Islam begangen.

Der typische Attentäter im Westen ist aber ein lone-wolf. Nicht gefestigt in seinem Glauben, nicht selten erst vor kurzem konvertiert. 
Nein, das sind nicht einfach Einzelfälle. Das hat strukturell mit dem politischen Islam zu tun. Sie beziehen sich ja alle auf den Islam und nicht auf eine andere Religion. Da kann man doch nicht sagen, das hätte nichts mit dem Islam zu tun. Man muss sich bewusst sein, dass viele Moscheen, auch in der Schweiz, von Saudi-Arabien und von der Türkei finanziert werden. Und diese Geldgeber haben ein Interesse daran, eine möglichst radikale Form des Islam zu propagieren. Die Folge ist, dass der Imam des islamischen Zentrums Genf öffentlich verkündet, dass bei Ehebruch Steinigung zulässig sei. Oder dass Korane verteilt werden, in deren Begleitheften steht: Man soll Ungläubige töten.

«Da steht jemand, der mich eigentlich​ tot sehen möchte, weil ich seinen Glauben nicht teile.»

Es ist aber nicht verboten, Korane zu verteilen. Auch wenn einem der Inhalt nicht passt.
Juristisch ist das korrekt. Man muss auch jemandem Grundrechte zugestehen, der die Grundrechte ablehnt. Aber für den gesellschaftlichen Frieden ist das ein völlig falsches Zeichen.

«Verteidige» ich aus Ihrer Sicht den politischen Islam, wenn ich gegen das Verbot von Koran-Verteilungsaktionen bin?
Verteidigen vielleicht nicht, aber Sie tragen nicht zur Deeskalation bei. Aus staatsrechtlicher Sicht mag es ein Fehler sein, Vereinigungen wie «Lies» zu verbieten, einverstanden. Aber wenn ich durch Bern laufe und von islamistischen Fundamentalisten mit radikaler Propaganda bedrängt wird, gibt mir das ein schlechtes Gefühl. 

«Den Islam kritisieren heisst, Minderheiten kritisieren.»

Wieso?
Weil da jemand steht, der mich eigentlich​ tot sehen möchte, weil ich seinen Glauben nicht teile.

Weshalb äussern sich Linke denn Ihrer Meinung nach nicht gegen den politischen Islam?
Weil es ein Minenfeld ist. Den Islam kritisieren heisst, Minderheiten kritisieren. Und da ist die Angst bei der Linken eben oft grösser, falsch verstanden zu werden. Dann verlegt man sich darauf, den Rechtspopulismus zu kritisieren. Und alle klopfen einem auf die Schulter.

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Rechte würden Ihnen für diese Aussage vielleicht auf die Schultern klopfen ...
Genau das ist das Problem vieler Linken. Das dogmatische Denken in dieser Frage. Wenn der politische Gegner nur in einem Punkt recht haben könnte, sagt man lieber nichts – aus Angst, ihm etwas zuzugestehen.

Sie haben mit Ihrem Kommentar in ein Wespennest gestochen.
Ja, mein Post zeigt auf, dass ich nicht so falsch liegen kann. Einer schrieb sogar, mein Profil sei gehackt worden. Ich denke dann: Habt ihr eigentlich nicht geschnallt, dass der Aufstieg all der Rechtspopulisten auch damit zu tun hat, dass sich die Linke weigert, über gewisse Themen zu reden?
Die Linke überlässt Islamkritik den Rechten und verliert so Wähler, obwohl sie die Chance hätte, den Islam differenziert zu kritisieren. Das sieht man zum Beispiel in Frankreich, wo die Linke komplett versagt hat und einer Rechtspopulistin das Feld überlässt. Nichts gelernt aus Trumps Aufstieg? Man soll Rechtspopulisten verteufeln, nicht deren Wähler. 

«Indem man Ja sagt zum Waffenhandel mit Saudi-Arabien, sagt man auch Ja zum Bau einer Moschee, in der eine wahhabitische Auslegung des Islam gepredigt wird.»

In Ihrem Post polemisieren Sie aber auch.
Ich habe bewusst überspitzt formuliert, ja. Weil ich auf etwas aufmerksam machen will. Der Rechten geht es beim Thema Islam aber nur darum, Problemwirtschaftung zu betreiben. Dabei sind sie an der Radikalisierung zu einem Gutteil mitschuldig.

Wo?
Bei der Finanzierung der wahhabitischen und salafistischen Gottesstaaten. Die Rechte und die Mitte haben null Hemmungen, mit den saudischen Scheichs Geschäfte zu betreiben – sei es der Waffenhandel, sei es der Ölhandel. Dieses Geld fliesst wiederum in den Aufbau radikaler Moscheen in Europa. Das ist das Perverse an den rechten und liberalen Parteien: Sie fördern den radikalen Islam durch den grenzenlosen Freihandel, hetzen aber gleichzeitig gegen Flüchtlinge. Indem man ja sagt zum Waffenhandel mit Saudi-Arabien, sagt man auch ja zum Bau einer Moschee, in der eine wahhabitische Auslegung des Islam gepredigt wird. Und der «Islamische Staat» bezieht sich auf die wahhabitische Auslegung des Koran. Aber der Profit steht halt über allem.

Dann müsste die Linke doch konsequenterweise den Waffen- und Ölhandel mit fundamentalistischen Staaten kritisieren.
Das machen die Linken ja auch. Aber es reicht eben nicht.
Sie müssten auch kritisieren, dass im Jahr 2017 homosexuelle Muslime auch im Westen nicht zu ihrer Neigung stehen können, weil sie Angst haben, getötet zu werden. Sie müssten kritisieren, dass in Berlin ein jüdischer Schüler von arabischstämmingen Mitschülern aus seiner Klasse gemobbt wird. Sie müssen kritisieren, dass an der Universität Zürich Erdogan-Spitzel Oppositionelle fotografieren. Vor allem, dass das eben etwas mit dem Islam zu tun hat.

Das wird doch alles in der Öffentlichkeit verhandelt. Zeitungen schreiben darüber, auch linke, das Fernsehen berichtet, auf den sozialen Medien wird diskutiert. 
Viele Linke haben Angst, ‹Kritik› und ‹Islam› in einem Satz zu verwenden. Kritisiert man unter Linken und Liberalen den Rechtspopulismus, klopfen einem alle auf die Schultern, kritisiert man den Islam, schweigen viele lieber oder bleiben im Allgemeinen und reden einfach von ‹Religionskritik›.

Sind Sie eigentlich links?
Ich würde mich als unnetten und undogmatischen Linken bezeichnen. Ich kenne die Geschichte des Kommunismus, ich weiss, welche Verbrechen im Namen des Sozialismus begangen wurden. 

Haben Sie Angst?
(Überlegt lange). Nein, es ist nicht Angst. Ich wäre ängstlich, wenn ich nicht über das komplexe Thema Islam und den Umgang der Linken damit sprechen würde. Aber ich mache das Gegenteil. Wenn man es ernst meint mit der Demokratie, mit der Gleichberechtigung und dann gleichzeitig aber die Debatte über den Islam verweigert, dann ist man ein Feigling. Weil man Angst hat, falsch verstanden zu werden, und weil man Angst hat, sich einzugestehen, dass man auch Angst hat vor dem politischen Islam.

Also haben Sie doch Angst.
Ja, gut. Ich habe Angst. Ich habe aber auch Angst vor dem Rechtspopulismus, ich habe auch Angst vor dem Neoliberalismus. Ich habe Angst vor dem Zusammenschluss der Saatgutfirmen. Ich habe Angst vor dem internationalen Steuerwettbewerb und seinen Folgen. Und genauso habe ich auch Angst vor der radikalen Auslegung des Islam.

Angst ist ein schlechter Ratgeber, sagt der Volksmund.
Schauen Sie, ich war in Paris, als der Anschlag auf das Bataclan passiert ist. Ich sass in einem Café, nicht weit davon entfernt. Am nächsten Tag habe ich an einer Ausstellung mit einer Freundin gesprochen. Sechs ihre Freunde wurden bei dem Anschlag niedergemäht. Die Angst, die Bedrohung, das wird in diesem Moment zur körperlichen Realität, zur realen Erfahrung. Und dann sagen einem die Leute: Man darf keine Angst haben. Das ist doch anmassend!

Trotzdem, bei einer Diskussion über Menschen, Religionen, sollte man sich eher nicht von Angst leiten lassen.
Jeder Mensch hat Angst. Es sind aber zwei verschiedene Dinge, die Angst ernst zu nehmen – oder sie aufzublasen und zu bewirtschaften. Man muss kühlen Kopf bewahren, aber das ist in vielen Situationen einfacher gesagt als getan.

Wie sähe denn eine faire linke Islamkritik aus?
In Deutschland hat man erst jetzt begriffen, dass man mit Flüchtlingen aus muslimischen Ländern reden muss. Über den Holocaust zum Beispiel. Über die Rechte von Frauen. Die Linken in der Schweiz sollten diesem Beispiel folgen. Wir müssen sagen: ‹Schau, bei uns läuft es so und so. Bei uns darf man homosexuell sein, bei uns werden Frauen nicht gegen ihren Willen berührt.› Stattdessen schauen viele Linke lieber weg und verkauft das dann noch als Toleranz. Toleranz ist eh ein Unwort. Wer will schon toleriert werden? Ein Mensch will respektiert werden, Ernst genommen.

Das alles betrifft doch den kleinsten Teil der Muslime in der Schweiz.
Ja, die Mehrheit der Muslime in der Schweiz ist säkular, aber viele Flüchtlinge sind es nicht. Mit säkularisierten Muslimen kann ich übrigens viel einfacher über den Islam sprechen als mit vielen Linken. Glauben und Religionskritik schliessen sich ja nicht aus. Und die sehen auch, dass die Probleme real sind. 
Sprechen sie mal mit Lehrerinnen an Schulen mit vielen muslimischen Schülern. Eine Lehrerin aus Bümpliz hat mir gesagt, sie werde zum Teil aufs Gröbste beleidigt, als Nutte bezeichnet oder mit Gewalt bedroht – weil sie eine Frau ist. So was ist inakzeptabel, da muss man hart durchgreifen, nicht Verständnis zeigen.

Haben Sie sich eigentlich als Dichter geäussert, als Bürger oder als Privatperson?
Es wäre lächerlich, wenn ich sagen würde: das ist meine Privatmeinung. Alles ist öffentlich. Ich habe auch schon immer öffentlich politisiert. Im Jugendparlament zum Beispiel, das ich gegründet habe. Ich bin einfach extrem empfindlich gegenüber Ungerechtigkeiten. Darum äussere ich mich ab und zu – in der Tradition der politischen Schriftsteller. Etwas, was ja in der Schweiz sehr dünn gesät ist. Bärfuss, Muschg, Krneta, Bichsel, gut, und sonst? Aber in meiner Schriftstellergeneration und bei den jüngeren Autoren herrscht intellektuelle Leere. 

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256 Kommentare
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Watson - die Weltwoche der SP
13.04.2017 18:28registriert September 2016
Ein vernünftiger Linker? Dass ich das noch erleben darf 😯
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Plöder
13.04.2017 16:53registriert Juli 2015
Kutti spricht das aus, was ich schon länger denke.
Bei jeder Diskussion über den Islam wird vielfach mit dem Christemtum verglichen... Und jede Kritik wird als unerhört und unreflektiertheit abgetan...
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Tom Garret
13.04.2017 15:37registriert Juli 2014
Wow! Für mich total auf den Punkt gebracht und wiederspiegelt auch die Tendenz der Kommentare hier drinn wenn es um Islam und Christentum geht.
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