Herr Berset, wie nervös waren Sie die
letzten Tage?
Alain Berset: Die Nervosität hielt sich in
Grenzen. Schwierig waren die Momente,
in denen ich nichts mehr tun konnte.
Das Klima im Parlament war sehr gereizt.
Haben Sie das gespürt?
Nicht in der ganzen Tragweite. Bei den offiziellen
Sitzungen im Parlament und in den
Kommissionen war die Tonalität hart. Doch
ich habe erst jetzt begriffen, mit welchen
Bandagen hinter den Kulissen gekämpft
worden ist.
In der Einigungskonferenz gingen die
Wogen hoch. FDP-Fraktionschef Ignazio
Cassis brauchte das Wort «demütigend».
Ich habe viele Einigungskonferenzen erlebt.
Die Konfrontation war zwar hart, aber ich
empfand sie nicht als aussergewöhnlich.
Emotionen und Leidenschaft gehören zur
Politik – ich finde das positiv.
Im Nationalrat passierte das Gesetz
mit der knappestmöglichen Mehrheit,
das ist keine gute Ausgangslage für die
Volksabstimmung.
Entscheidend ist, dass das Volk über die
Reform befinden kann. Für den Bundesrat
war immer klar, dass die Reform Stabilität,
Sicherheit und Transparenz bringen muss.
Weshalb reformieren wir die erste und die
zweite Säule gemeinsam? Nicht, weil es
besonders originell ist, sondern weil für die
Leute das Resultat zählt, also wie hoch
ihre Rente ausfällt, wie viel sie zum Leben
haben. Der Bundesrat hat sich zum Ziel
gesetzt, dass die Renten nicht sinken. Dieses
Versprechen können wir halten.
Mit dem AHV-Zustupf von 70 Franken
für Neurentner lässt sich die Reform
auch gut verkaufen.
Nochmals: Wichtig ist, dass das Rentenniveau
gesichert ist. Das Parlament hat
intensiv über die Kompensation der Rentenverluste
wegen der Senkung des Umwandlungssatzes
diskutiert. Dabei ging vergessen,
dass in vielen, früher hart umstrittenen
Punkten grosse Einigkeit herrscht: etwa bei
der Angleichung des Frauenrentenalters auf
65 Jahre und der Senkung des Umwandlungssatzes.
Diese Einigkeit ist eine echte
Leistung nach zwanzig Jahren Reformstau.
Und selbst bei der Kompensation waren die
Unterschiede zwischen den beiden Räten
nicht riesig.
Der Bundesrat wollte nur in der
zweiten Säule kompensieren. Werden
Sie im Abstimmungskampf nicht
froh sein um die 70 Franken?
Die 70 Franken sind keineswegs die ganze
Reform, das ging etwas vergessen in den
letzten Tagen. Nun ist der Entscheid gefallen
und es gehört zum Wesen eines Kompromisses,
dass mit diesem nicht alle zufrieden
sind. Aber ich hoffe, dass die Parteien und
Organisationen nun die Vorlage aus einer gewissen
Distanz beurteilen und sehen, dass in
vielen wichtigen Fragen Konsens besteht.
Sie hoffen noch darauf, dass die FDP keine
aktive Nein-Kampagne machen wird?
Das ist ihre Angelegenheit. Die Gegner müssen
sich gut überlegen, was ein Nein für die
Leute konkret bedeuten würde. Und wie wäre
es zu interpretieren? Etwa das Volk will ein
noch höheres Rentenalter und einen noch
tieferen Umwandlungssatz? Man könnte nicht
einfach eine Neuauflage fordern, die sich nur
bei der Kompensation unterscheidet.
Die Kosten der Reform laufen nach
2030 völlig aus dem Ruder. Ist das eine
ehrliche Politik, die Folgekosten einfach
der nächsten Generation zu überlassen?
Alle Alternativen, die auf dem Tisch lagen,
hatten ein Finanzierungsproblem nach
2030. Der Bundesrat hat immer gesagt:
Wir zielen auf 2030, bis dann muss diese
Reform die Renten sichern. Ein eher längerer
Zeithorizont als der übliche für eine
Rentenreform.
Sie arbeiten seit fünf Jahren
an dieser Reform. Was waren die
kritischen Momente?
Diese gab es auf unterschiedlichen Ebenen.
Eine hohe Hürde waren sicher die Wahlen
2015 mit vielen personellen Wechseln im
Nationalrat. Für die neuen Kommissionsmitglieder
war das Einarbeiten in das Dossier
eine grosse Herausforderung. Mich hat beeindruckt,
wie sie das gemacht haben.
Das klingt sehr nett. Doch mal ehrlich,
wenn der Ständerat die Vorlage nicht
zuerst beraten hätte, dann gäbe es wohl
heute keine Reform – zumindest nicht
in dieser Form.
Die Ratspräsidenten entscheiden, welcher
Rat beginnt. Im Ständerat gab es in der
letzten Legislatur viele Sozialversicherungsspezialisten, die daran interessiert waren,
das Geschäft zuerst zu beraten. Rückblickend
war das keine schlechte Idee.
Der Ständerat hat sich danach zwei
Jahre lang nicht mehr bewegt.
Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen
den beiden Räten?
Es liegt nicht an mir, das zu kommentieren.
Klar ist: Das Zweikammersystem ist anspruchsvoll,
aber es bewährt sich seit 1848.
Der Ständerat hat im Moment den Ruf
einer Klinikkammer.
Das habe ich so noch nie gehört. Aber es ist
nicht von der Hand zu weisen, dass der
Ständerat bei der Altersvorsorge für Stabilität
gesorgt hat.
Wie beurteilen Sie die Reformfähigkeit
unseres Landes?
Starke Sozialversicherungen sind nur stabil,
wenn sie an die gesellschaftlichen Entwicklungen
angepasst werden. Das gelingt
uns immer wieder. Dabei stellt uns die
direkte Demokratie vor eine besondere
Herausforderung. Das dauert zwar länger,
aber die Ergebnisse halten. Meine Kollegen
aus anderen europäischen Ländern
machen jeweils grosse Augen, wenn ich
von unserer Rentenreform erzähle: Umwandlungssatz
runter, Mehrwertsteuer
und Lohnabgaben rauf, länger arbeiten
und am Schluss muss die Bevölkerung
an der Urne Ja sagen. Sie sagen, das sei
nicht machbar. Doch, das ist möglich!
Aber es braucht dafür eine sehr ausgewogene,
fein tarierte Vorlage.