Frau Nielen, wie beurteilen Sie das Verhalten der Lernenden im aktuellen Fall?
Susanne Nielen: Sie hat sehr mutig und selbstbewusst gehandelt, indem sie sich nicht einschüchtern liess, sondern gekündigt und den Lehrlingsverantwortlichen angezeigt hat. Wir hätten eher dazu geraten, sich vorerst krankschreiben zu lassen und den Fall beim kantonalen Lehrlingsamt zu melden. So hätte die junge Frau ihren Lohnanspruch nicht verloren – aber sie hat sich offenbar selber für einen anderen Weg entschieden, das würden wir respektieren.»
Was tut die Opferhilfe, wenn sich eine junge Frau meldet, die vom Lehrmeister belästigt wird?
«Wenn sich bei uns Betroffene melden, geht es primär darum, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie sich vor weiteren Übergriffen schützen können. Dann diskutieren wir gemeinsam, ob eine Strafanzeige eingereicht werden soll – und was auf Betroffene zukommt, wenn sie Anzeige machen. Je nach Bedürfnissen und finanziellen Möglichkeiten kann die Opferhilfe den Betroffenen einen Rechtsanwalt zur Seite stellen, sie zum Gerichtsprozess begleiten oder auch psychologische Hilfe organisieren und finanzieren.
Der Angeklagte hat vor Gericht versucht, sein Verhalten zu relativieren, und unter anderem gesagt, die Lernende habe ihm selber auch Sex-Nachrichten geschickt ...
Das sind leider bekannte Muster, die gerade bei Fällen von sexueller Belästigung immer wieder festzustellen sind: Der Täter versucht sein Verhalten häufig zu verharmlosen, indem er zum Beispiel behauptet, das Opfer habe ‹dies auch gewollt› oder sogar provoziert, und die Übergriffe daher nicht als Belästigung aufgefasst. Das kann für eine Betroffene sehr belastend und kränkend sein, gerade in einem Fall, wenn sie vor Gericht dem Täter wieder gegenübersitzt und sich dessen Aussagen anhören muss.»
Wie oft kommt es im Aargau vor, dass eine Lernende von ihrem Vorgesetzten im Betrieb belästigt wird?
Bei der Opferhilfe melden sich mehrmals pro Jahr Betroffene, bei denen genau diese Konstellation gegeben ist.
Bei der Befragung vor Gericht sagte der Angeklagte, er sei heute nicht mehr als Lehrlingsverantwortlicher im grafischen Gewerbe, sondern als Berater in einer anderen Branche tätig. Dies allerdings nicht ganz freiwillig, wie eine Nachfrage der «Aargauer Zeitung» beim kantonalen Bildungsdepartement ergibt. Im aktuellen Fall übermittelte die Staatsanwaltschaft den rechtskräftigen Strafbefehl wegen Pornografie gegen den Lehrlingsverantwortlichen an die Lehraufsicht.
Diese überprüfte daraufhin, ob beim verurteilten Mann «die Voraussetzungen für die Ausbildung von Berufslernenden noch erfüllt sind», wie Simone Strub, Sprecherin des Bildungsdepartements, auf Anfrage sagt. «Wegen der Eindeutigkeit des Strafbefehls» sei der Lehrlingsverantwortliche aufgefordert worden, die Bildungsbewilligung zurückzugeben respektive den Verzicht auf die Bildungsbewilligung zu erklären.
Dies tat der Verurteilte offenbar – hätte er sich geweigert, hätte die Abteilung Berufsbildung und Mittelschule ein aufsichtsrechtliches Verfahren betreffend Entzug der Bildungsbewilligung einleiten müssen, wie die Sprecherin erklärt.
Jeder Lehrmeister, der Lernende ausbildet, benötigt eine solche Bewilligung. Dafür muss vorgängig ein sogenannter Berufsbildnerkurs absolviert werden. Das kantonale Bildungsdepartement kann diese widerrufen, wenn die Bildung in beruflicher Praxis ungenügend ist, Lehrmeister die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllen oder ihre Pflichten verletzen.
Strub hält fest, Lehrmeister müssten «nicht nur über fachliche und pädagogische Fähigkeiten, sondern auch über die nötigen Sozialkompetenzen verfügen». Insbesondere die persönliche Integrität der Lernenden müsse genügend geschützt sein, wie dies im Arbeits- und Gleichstellungsgesetz verlangt ist.
«Es bestehen keine langjährigen Datenreihen», sagt Simone Strub, «in den letzten beiden Jahren standen aber je zwei Verfahren betreffend Entzug von Bildungsbewilligungen im Zusammenhang mit dem Vorwurf sexueller Belästigung.»
Dem Widerruf einer Bildungsbewilligung gehen laut Simone Strub sorgfältige Abklärungen voraus. Diese können unter anderem eine Befragung des Lehrmeisters, aktueller oder ehemaliger Lernender und Beschäftigter des jeweiligen Betriebs und eine Bestandsaufnahme vor Ort beinhalten.
(aargauerzeitung.ch)
Ich gehe leider davon aus, dass die Dunkelziffer weit höher ist als die paar Fälle pro Jahr.
Deshalb ist die Überschrift von mutigem Handeln sehr treffend.
Viel verzwickter wird's, wenn sich die / der Lernende von etwas erotischer Aufmerksamkeit durch väterliche oder mütterliche Person anfänglich noch etwas geschmeichelt fühlt... Dann wird sie / er sich schuldig fühlen und nie Anzeige erstatten.
Verantwortlich ist immer die vorgesetzte Person. Diese befindet sich in einer Machtposition und muss ihre Gefühle im Griff haben, so karg das eigene Sexualleben auch immer sein mag.