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Interview

«Erste Burnouts bei Kinder und ihr Zugang zu Smartphones fällt nahe zusammen»

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Für Urs Kiener, Kinder- und Jugendpsychologe, ist das Smartphone ein relevanter Stressfaktor.Bild: Shutterstock
Interview

«Die ersten Burnouts bei Kindern und ihr Zugang zu Smartphones fallen nahe zusammen»

Viele Kinder können wegen Stress und Leistungsdruck nicht richtig schlafen. Einige wenige entwickeln gar ein Burnout. Warum die Erfindung des Smartphones mitschuldig ist, erklärt Urs Kiener, Kinder- und Jugendpsychologe bei der Pro Juventute.
15.10.2017, 11:3216.10.2017, 05:10
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Urs Kiener, kann man sagen: Burnouts sind im Kinderzimmer angekommen?
Urs Kiener:
Tatsächlich diagnostizieren heute Psychiater bei Kindern eine Krankheit, die noch vor zehn Jahren Erwachsenen vorbehalten war. Es ist jetzt aber nicht so, dass es die Massen betrifft. Es sind vielleicht rund 3 Prozent der Schweizer Kinder, die eine Erschöpfungsdepression entwickeln.

Warum ist es soweit gekommen?
Da gibt es verschiedene Ursachen. Etwa den leistungsorientierten Erziehungsstil der Eltern oder die Tatsache, dass Schulen ein Teil des Lernstoffs in die Freizeit der Kinder verlagern. Es ist vielerorts normal, dass ein Kind drei Stunden Hausaufgaben am Tag macht. Und selbst über das Wochenende werden viele Schüler mit Aufgaben zugedeckt. Die ganze Freizeit ist durchorganisiert und Kinder verfügen heute kaum noch über selbstbestimmte Zeit.

Urs Kiener

Urs Kiener arbeitet als Kinder- und Jugendpsychologe für die Stiftung Pro Juventute.  
Urs Kiener arbeitet als Kinder- und Jugendpsychologe für die Stiftung Pro Juventute.  bild: zvg

Können Sie weitere Ursachen ausmachen?
Eines fällt auf: Die ersten Burnouts bei Kindern und Jugendlichen und die erste grosse Welle, mit welcher Kinder Zugang zu Smartphones erhielten, fallen zeitlich recht nahe zusammen. Kinder empfangen täglich bis zu tausend Nachrichten. Viele befinden sich dadurch im Zustand permanenter Rastlosigkeit. Sie haben Angst, etwas wichtiges zu verpassen und sind daher nonstop online. Das ist sicher ein relevanter Stressfaktor.

Sollten Eltern ihrem Nachwuchs also besser gar kein Smartphone geben?
Gemäss der JAMES-Studie haben in der Schweiz 99 Prozent der 12-Jährigen ein Smartphone. Darum wäre es realitätsfern, dem Kind das Smartphone zu verbieten. Das wäre, als wenn man einem Erstklässler den Schulthek verweigern würde. Das Smartphone ist heute ein alltägliches Hilfsmittel. Ein Kind, das keines hat, kann schnell ausgeschlossen werden

Was raten Sie Eltern dann?
Kinder schauen das Smartphone-Verhalten zuallererst bei ihren Eltern ab. Eltern, die Ihr Kind spazieren führen und sich dazu ununterbrochen ihrem Smartphone widmen, gehören zum Alltagsbild. Eltern können den Kindern das richtige Verhalten vorleben. Leider kenne ich kaum Erwachsene, die ihren persönlichen digitalen Medienkonsum ernsthaft überdenken und nachhaltig verändern möchten.

Das richtige Verhalten vorleben – ist dies allgemein das richtige Rezept, um bei Kindern Erschöpfungssymptome zu verhindern?
Eltern sind für ihre Kinder die wichtigsten Vorbilder – ob sie das wollen oder nicht. Ebenso wichtig ist aber, dass Eltern ihr Kind genau beobachten. Wenn sie klassische Erschöpfungssymptome wie Schlaflosigkeit oder tägliche Kopf- oder Bauchschmerzen feststellen, sollten sie nicht zögern, professionelle Hilfe herbeiziehen. Erschöpfungsdepressionen können nicht im Familienkreis behandelt werden. Doch nicht nur die Eltern sind gefordert. Es ist jetzt Zeit für eine breite gesellschaftliche Debatte. Wir müssen jetzt reagieren. Darum die Kampagne von Pro Juventute.

Trägt das gesellschaftliche Leistungsdenken eine Mitschuld an der Problematik?
Auch Eltern mit sehr ehrgeizigen Erziehungszielen haben stets die besten Absichten für ihr Kind. Sie wollen es möglichst optimal auf die Anforderung der Leistungsgesellschaft vorbereiten. Jede Familie kann aber selber definieren, welche Werte für sie wichtig sind. Es lohnt sich deshalb gelegentlich, die Werte, Einstellungen und das Verhalten in der Familie zu überdenken. Wenn wir die Maximierung von Konsum und monetären Werten an die erste Stelle setzen, werden diese und die damit verbundenen Stressorgen den Kindern fast automatisch weitervermittelt.

Hatten sie selber als Kind eine stressfreie Zeit?
Ich bin in einer Bauernfamilie aufgewachsen. Das hiess am Morgen um 6 Uhr aufstehen und vor der Schule im Stall mithelfen. Auch nach dem Unterricht musste ich oft zu Hause mit anpacken. Ich war allenfalls körperlich erschöpft und schlief wunderbar. Stresssymptome, wie wir sie heute bei Kindern feststellen, kannte ich keine.

Also die bessere Zeit?
Im Gegenteil: In den letzten zwei, drei Generationen hat sich in der Erziehung und in der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern vieles verbessert. Eltern sind heute in der Regel verständnisvoller, gehen auf die Bedürfnisse der Kinder ein und interessieren sich für ihre Meinung. Kinder fühlen sich heute besser verstanden als das vor wenigen Generationen der Fall war. Und auch sind die Kinder von heute aufgeschlossener und reflektierter. Aber im Zusammenhang mit dem Druck und Stress den unsere Kinder heute erfahren, gilt es tatsächlich zu überdenken, was für eine Welt wir für unseren Kindern gestalten wollen.

Wie das Smartphone unseren Alltag verändert hat

Video: srf/SDA SRF

Du weisst, dass du zu viel Zeit mit dem Smartphone verbringst, wenn ...

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25 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Madison Pierce
15.10.2017 13:14registriert September 2015
Vielleicht bin ich zu konservativ, aber meine Kinder werden vor 12 Jahren kein Smartphone haben. Ihre taktilen Erfahrungen sollen sie mit Bauklötzen und einer Brio-Bahn machen, so wie ich es erleben durfte.

Aber wie im Artikel steht: Vorbild zu sein ist das Wichtigste.
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s'Paddiesli
15.10.2017 13:08registriert Mai 2017
Also, ich finde 3% erschreckend hoch!
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leu84
15.10.2017 16:24registriert Januar 2014
Das Problem Smartphone ist in allen Altersgruppe zu finden. Man muss immer auf dem laufenden sein und die Whatsapp-Nachrichten müssen alle gelesen werden.
Ich sehe dass Problem auch bei den Eltern, die nur das BESTE für ihr Kind (Ego) wollen. Das es ein Instrument spielt und in einem Sportverein aktiv ist (plus weiteres wie Ballett, Englisch ...) ist noch ok, aber es muss in allen Aktivitäten die Nummer eins sein. Das Kind soll ein zwei Sachen machen wo es Spass macht und Gspänli findet. Wenn es Spass macht, dann macht man auch etwas mehr und dies ist gut für die Moral. Also weniger Stress
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