Der vergangene Samstag war eine Zäsur im Schweizer Strafrecht: An diesem Tag trat das neue Gesetz zur Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative in Kraft. Diese war 2010 von der Bevölkerung angenommen worden. Nicht schneller ging es, weil zuerst der Ausgang der Durchsetzungs-Initiative abgewartet werden musste, die nach einem emotionalen Abstimmungskampf im Februar dieses Jahres an der Urne scheiterte.
Das neue Ausschaffungsrecht gibt der Justiz eine neue Rolle: Weil die strafrechtliche Landesverweisung (wie bis 2007) wieder im Strafgesetzbuch verankert ist, entscheiden nun die Gerichte darüber, ob ein Ausländer aufgrund eines Delikts die Schweiz verlassen muss. Bis anhin verfügten die Ausländerbehörden – in der Regel die kantonalen Migrationsämter –, gestützt auf das Ausländergesetz, eine sogenannte ausländerrechtliche Fernhaltemassnahme.
Bis das erste strafrechtliche Urteil mit einer Landesverurteilung rechtskräftig ist, wird es aber noch Monate dauern. Denn die Gerichte beurteilen nur Delikte, die nach dem 1. Oktober begangen werden – für Straftaten, die noch unter das alte «Regime» fallen, sind wegen des Rückwirkungsverbots weiterhin die Migrationsämter zuständig. Zudem ist davon auszugehen, dass nicht zuletzt aufgrund des strengeren Gesetzes zahlreiche Gerichtsurteile an die nächsthöhere Instanz weitergezogen werden. Und weil zuerst der Strafvollzug beendet sein muss, dürfte frühestens 2018 der erste straffällige Ausländer aufgrund von strafrechtlichen Bestimmungen das Land verlassen müssen.
So oder so stellen sich bei der Umsetzung der neuen Gesetzesbestimmungen zahlreiche Fragen. Welche Kriterien sind für einen Härtefall ausschlaggebend? Wie wird Sozialhilfemissbrauch, der ebenfalls zu einer Landesverweisung führen kann, genau definiert? Für welche Dauer wird die Landesverweisung angeordnet? Letztlich wird das Bundesgericht Klarheit schaffen müssen. Es gibt sogar Juristen, die davon ausgehen, dass die Gerichte das neue Ausschaffungsrecht so streng wie möglich auslegen werden – nur um baldmöglichst einen höchstrichterlichen Spruch zu provozieren.
Bereits jetzt ist absehbar, dass die Personenfreizügigkeit die Justiz auch in dieser Hinsicht beschäftigen wird – denn das Abkommen vermittelt den daran teilnehmenden Bürgern direkt anwendbare Ansprüche bezüglich Ein-, Ausreise und Verbleib im Aufenthaltsland. Diese Rechte sind jedoch nicht absolut: Personen, die vom Personenfreizügigkeitsabkommen profitieren, mussten bis anhin eine tatsächliche und hinreichende schwere Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen, damit sie über eine ausländerrechtliche Fernhaltemassnahme des Landes verwiesen werden konnten.
Das neue Ausschaffungsrecht schafft hierbei einen Paradigmenwechsel: «Mit Ausnahme von Härtefällen darf dieses Kriterium künftig nicht mehr angewendet werden», sagt Franziska Zumstein vom Bundesamt für Justiz. Oder anders ausgedrückt: «Mit dem neuen Recht spielt es keine Rolle mehr, woher jemand kommt – das darf nicht mehr gesondert betrachtet werden», so Zumstein.
Ganz so eindeutig scheint die Sachlage indes nicht zu sein. Der bekannte Migrationsrechtler Marc Spescha verweist auf das Bundesgerichtsurteil von vergangenem November, das den Vorrang des Personenfreizügigkeitsabkommens gegenüber zuwiderlaufendem Landesrecht festhielt. «Das bedeutet, dass das neue Ausschaffungsrecht für Personen aus dem EU-EFTA-Raum nicht angewendet werden kann. Bürger dieser Länder werden auch künftig nicht ausgeschafft, sofern sie keine gegenwärtige, ernsthafte Gefahr für die öffentliche Sicherheit der Schweiz darstellen.» Spescha rechnet damit, dass es in den nächsten Monaten und Jahren eine Neuauflage der rechtsstaatlichen Diskussionen geben wird, die schon bei der Durchsetzungs-Initiative geführt wurden.
Auch das Migrationsamt Bern bezieht sich auf Anfrage auf die im Freizügigkeitsabkommen verbrieften Aufenthaltsrechte und schliesst: «Insofern kann festgehalten werden, dass die Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative hinsichtlich der Vorgaben des Abkommens problematisch ist.»
Bei der SVP, der Urheberin der nun umgesetzten Initiative, kommen solche Worte naturgemäss gar nicht gut an. «Das Personenfreizügigkeitsabkommen darf nie und nimmer ein Grund sein, damit kriminelle Ausländer in der Schweiz bleiben dürfen», sagt der Zürcher Nationalrat Gregor Rutz. Er warte die nun einsetzende Praxis der Gerichte ab. «Sprechen diese die Landesverweise nicht so aus, wie es die Bevölkerung verlangte, werden wir auf parlamentarischem Weg wieder aktiv», so Rutz.