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Marco Camenisch: Die Stimme der Anarchisten ist nach 23 Jahren Gefängnis immer noch nicht verstummt

Marco Camenisch – ein ungebrochener Gegner des Systems.
Marco Camenisch – ein ungebrochener Gegner des Systems.Bild: KEYSTONE

Marco Camenisch: Die Stimme der Anarchisten ist nach 23 Jahren Gefängnis immer noch nicht verstummt

Marco Camenisch sitzt seit über 23 Jahren hinter Gittern. Der Ökoanarchist hat Spreng-Anschläge verübt und einen Grenzwächter getötet. Der Journalist Kurt Brandenberger hat ein sehr feines Portrait über den Mann geschrieben, der sich – ob hinter oder vor den Gefängismauern – dem Kampf gegen die Zerstörung der Natur verschrieben hat. 
16.04.2015, 12:3816.04.2015, 14:42
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Marco Camenisch, dem Bündner, der in den 80-er Jahren Hochspannungsmasten der Elektrizitätskonzerne in die Luft jagte und als verurteilter Mörder seit über 23 Jahren ununterbrochen im Gefängnis sitzt, nimmt man seinen Kampf gegen die ausbeuterische Zerstörung der Umwelt ab. Seine ganze Seele hängt daran und ist schon immer daran gehangen und wird es auch weiterhin tun, wenn er am 8. Mai 2018, nach fast 10'000 Nächten und Tage hinter dicken Mauern, entlassen wird. 

Den gewaltigen Lebenskampf dieses Anarchisten und sein Innerstes zu vermitteln, das ist der Verdienst von Kurt Brandenbergers neuem Buch «Marco Camenisch. Ein Leben im Widerstand.» Der Journalist hat den einzigen Häftling, der mehr als lebenslänglich verurteilt wurde, während drei Jahren besucht, er hat mit seiner Tochter, mit seiner Frau und seiner Mutter geredet und dann dieses aussergewöhnlich schnörkellose und darum wohl so unverfälschte Buch vorgelegt. Marco Camenisch spricht auf fast jeder Seite selbst. Aus seinen Tagebüchern, aus Briefen oder anarchistischen Zeitschriften.

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Und trotz Brandenbergers Treue zur sachlichen Recherchearbeit liest sich das Buch wie ein Roman. Vielleicht ist Marco Camenischs Leben auch ein bisschen wie ein Roman. Nur möchte man darin nicht die Hauptrolle spielen.  

Kurt Brandenbergers Buch «Marco Camenisch. Ein Leben im Widerstand» erscheint am 16. April 2015 und ist im Echtzeit-Verlag erhältlich.  
Kurt Brandenbergers Buch «Marco Camenisch. Ein Leben im Widerstand» erscheint am 16. April 2015 und ist im Echtzeit-Verlag erhältlich.  

Marco Camenisch liebt die Berge. Er liebt die Natur. Er ist ein Alpenmann, ein Senn. Als wäre er direkt aus dem Mutterleib auf eine taufrische Wiese gekrabbelt, so wirkt der Mann, der sich im Krieg befindet gegen die «Finanzoligarchie», gegen «babytötende Nahrungsmittelkonzerne», gegen die «verbrecherischen internationalen Rohstoff- und Waffenhändler», gegen die «ausbeuterischen Multis» und die Atomlobby. Die Natur ist ihm existentiell, so wie sie es eigentlich uns allen sein sollte, doch neigen wir, die wir in den Städten wohnen, dazu, das manchmal zu vergessen. 

«Ich will eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Kein Staat. Keine Hierarchie. Überschaubare Gemeinschaften von selbstbestimmten, wehrhaften und freien Menschen. Ich bin Anarchist.» 
Marco Camenisch, zitiert nach Brandenberger.
Marco Camenisch 1991.
Marco Camenisch 1991.bild: Keystone

Die Sprengung des Hochspannungsmastes bei Balzers war Camenischs Rache für das AKW Gösgen. Damals war er 27 Jahre alt, ein kiffender, revolutionärer junger Mann, der schon damals wusste, dass sein Kampf ein gewaltsamer sein würde. Am Tag seiner ersten Verhaftung, am 8. Januar 1980, bewilligt die Regierung des Kantons Graubünden den Nordostschweizerischen Kraftwerken (NOK, heute Axpo) den Bau der Kraftwerke Ilanz I und II am Hinterrhein. 

«Wem nützt es, beispielsweise für ein Quartierzentrum zu kämpfen, ohne gleichzeitig gegen die fortschreitende und rasende Zerstörung des Planeten zu kämpfen? Es ist, wie wenn wir eine Kabine retten wollten auf einem Schiff, das lichterloh brennt und sinkt». 
Auszug aus Camenischs Artikel in der anarchistischen Zeitschrift Annarres, zitiert nach Brandenberger.

Marco Camenisch stellte sich denen in den Weg, die tiefe Wunden in die Landschaft schlagen, die im Namen des Profits die Umwelt, sein Zuhause zerfurchen und zerstören. Dafür wurde er mit zehn Jahren Zuchthaus bestraft. Er, der «Kriegsgefangene», flieht zusammen mit drei Italienern und einem Nigerianer aus dem Gefängnis. Dank zwei Pelati-Büchsen, die gefüllt waren mit zwei 38er-Trommelrevolvern und einer 6.35er Handfeuerwaffe, alle mit vollem Magazin. Ein Geschenk von den Freunden draussen.

Die Buchvernissage findet am 16. April 2015 um 20 Uhr im Theater Neumarkt statt. Dabei sind Kurt Brandenberger (Autor) und Bernard Rambert (Rechtsanwalt von Marco Camenisch und eine Art Kronanwalt aller radikalen Linken), die Moderation übernimmt Stefanie Hablützel. 

Nachdem der Bündner mit Hilfe einer Leiter über die hohen Knastmauern von Regensdorf in seine Freiheit gerannt ist, lebt er zehn Jahre im Untergrund. Als Gejagter von Interpol und Aktenzeichen XY hetzt er quer durch die Welt, stets bereit, die zu töten, die ihm seine Selbstbestimmung wieder wegnehmen wollen. 

«Im Untergrund lebst du 24 Stunden am Tag mit der Gefahr, ergriffen oder getötet zu werden. Oder töten zu müssen.» 
Marco Camenisch, zitiert nach Brandenberger.

Dann wird Marco Camenisch wieder verhaftet. Diesmal in Italien im April 1993, nachdem er den Carabiniere in den Arm geschossen hat, der ihn kontrollieren wollte. Er bekommt zwölf Jahre Zuchthaus wegen vorsätzlicher Körperverletzung, Sprengstoffanschlägen, illegalem Waffenbesitz, Fälschung und Hehlerei und sitzt im Hochsicherheitstrakt des Gefängisses in Novara, im Piemont ein. Und alles, was danach auf ihn wartet, ist der Prozess in der Schweiz: Dort wird er des Mordes am Grenzwächter Kurt Moser angeklagt werden. 

Camenisch-Sympathisanten ziehen durch die Zürcher Altstadt und fordern seine Freiheit. 4. Juni 2004. 
Camenisch-Sympathisanten ziehen durch die Zürcher Altstadt und fordern seine Freiheit. 4. Juni 2004. Bild: KEYSTONE

Camenisch hat den Mord immer abgestritten. 2004 sagt er vor dem Obergericht Zürich und vor einer vollen Tribüne, besetzt von seinen Freunden, Sympathisanten und «Genossen»: 

«Auch als bewaffnet kämpfender Revolutionär habe ich niemals kriegsverbrecherische Tötungen [...] vorgenommen. [...] Und ich habe schon gar nicht einem wehrlos am Boden Liegenden in den Kopf geschossen. Solche Niedertracht ist für mich schlicht nicht denkbar.» 

Der Grenzwächter Moser wurde am 3. Dezember 1989 im Puschlav mit drei Kugeln getötet. Er hinterliess eine Ehefrau und einen kleinen Sohn. Marco. Er trägt den Namen des verurteilten Mörders seines Vaters. 

Die Geschworenen befinden Marco Camenisch in einem Indizienprozess für schuldig. Er bekommt 17 Jahre. Die oberen Ränge des Gerichts toben: «Schweine», ruft einer. 

Überall in Europa fordern Anarchisten Marco Camenischs Freiheit. 
Überall in Europa fordern Anarchisten Marco Camenischs Freiheit. 

Im SF-Dokumentarfilm Camenisch – Mit dem Kopf durch die Wand sagt Camenischs Mutter, die ihm Zeit ihres Lebens durch alle Böden die Treue gehalten hat: 

«Marco und ich haben nie über das Tötungsdelikt in Brusio gesprochen. Es hat sich nie ergeben. Aber wenn er plötzlich sagen würde, ‹ich habe alles falsch gemacht›, würde er zerbrechen, dann hätten sie erreicht, was sie wollen.» 
Annaberta Camenisch, zitiert nach Brandenberger.
Bild
bild: wikipedia

Dieser Mann ist kein Kommunist, kein Marxist, kein Leninist oder Trotzkist. Er ist Anarchist. Er will das Recht auf Selbstbestimmung. Er will das Recht auf die absolute Freiheit und er will die Abschaffung des «Systems». Dieser Mann war immer ursprünglich. Er ist mitten in die Ursprünglichkeit hineingeboren worden. Er gehört zu ihr. Und irgendwann wird er zu ihr zurückkehren. 

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26 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Monachus
16.04.2015 14:47registriert April 2015
Camenisch eignet sich offensichtlich wunderbar als Projektionsfläche für genau jene Städter, über die die Journalistin den Stab bricht. Diese Romantisierung eines gewalttätigen Wirrkopfs (und das ist er, hinter den wohlklingenden und utopischen Floskeln steckt nichts politisch oder gesellschaftlich konkret umsetzbares) hinterlässt einen schalen Geschmack.
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Horseman
16.04.2015 14:35registriert April 2014
Anna,
ausserordentliche Menschen interessieren mich. Mein Dank für diesen interessanten Beitrag.
Eine etwas philosophische" Überlegung dazu:
Jedes System hat eine starke innere Kraft, sich selbst am Leben zu erhalten, um nicht die moralische Rechtfertigung für das eigene Tun zu verlieren.
Und so werden wir auch in Zukunft mit den schönen hellen, aber auch dunkleren Seiten von Systemen zu leben haben. Wie weit wir dagegen kämpfen, ist letztlich eine ganz persönliche Entscheidung.
Marco scheint glaubwürdig und authentisch, radikal zu sein.
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